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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Gebärde vermißt.
    «Du hast mich überzeugt, daß die Durchfahrt nach China nicht so wichtig war. Auch der große Fluß hat nicht mehr solche Bedeutung.»
    «Wir wollen umkehren», sagte ich. «Wir werden eine neue Expedition ausrüsten.»
    Er schüttelte den Kopf: «Ich habe keine Geduld mehr», sagte er.
    Wir machten uns wieder auf den Weg. Ich erlegte ein Reh, ein paar Feldhühner, einige Wachteln, aber unsere Vorräte gingen dennoch zu Ende. Als wir den großen blauen Strom erreichten, hatten wir noch für drei Tage zu leben.
    «Du siehst, ich habe es erreicht», sagte Carlier.
    Mit einem boshaften Ausdruck starrte er in den Fluß.
    «Ja. Aber jetzt heißt es zurückkehren», sagte ich.
    «Ich habe es erreicht», wiederholte er.
    Auf seinen Lippen lag ein eigensinniges Lächeln, als habe er jemandem einen gelungenen Streich gespielt.
    Ich drängte ihn umzukehren, gleichgültig folgte er mir. Er sprach nicht, er blickte nicht um sich. Am zweiten Tag schoß ich einen Truthahn, vier Tage später eine Hirschkuh; dann aber marschierten wir eine Woche lang, ohne auf Wild zu stoßen; unser Proviant war völlig erschöpft; ich tötete einen Büffel und röstete eine riesige Lende, die wir mit uns nahmen; am übernächsten Tag mußten wir sie fortwerfen.
    Wir beschlossen unser Glück im ersten Dorf zu versuchen, auf das wir stoßen würden. Eines Morgens sahen wir eine Siedlung vor uns liegen, wir gingen näher heran; kein Rauch stieg aus den Hütten, man hörte keinen Laut. Aber ich kannte den Geruch: er glich dem des Fleisches, das wirfortgeworfen hatten. Hunderte von Leichen lagen aufgehäuft auf dem verlassenen Platz. Die Hütten waren leer,ebenso die Verstecke, in denen Mais und Fleisch aufgehoben wurden.
    Wir wanderten noch zwei Tage, und am Morgen des dritten, als ich meinen Sack aufnahm, erklärte Carlier ruhig:
    «Leb wohl. Ich bleibe hier.»
    «Ich bleibe bei dir», sagte ich.
    «Nein. Laß mich allein.»
    «Ich bleibe», sagte ich.
    Den ganzen Tag lief ich durch die Prärie; ein Reh sprang in weiter Ferne davon; ich schoß nach ihm und fehlte.
    «Warum bist du wiedergekommen?» fragte mich Carlier.
    «Ich verlasse dich nicht.»
    «Geh», erwiderte er. «Ich will nicht sterben unter deinem Blick.»
    Ich zögerte: «Gut. Ich gehe.»
    Er sah mich voller Mißtrauen an: «Ist das auch wirklich wahr?»
    «Es ist wahr. Adieu.»
    Ich entfernte mich und streckte mich hinter einem Baum aus. Was soll jetzt aus mir werden? fragte ich mich. Wenn ich ihm nicht begegnet wäre, wäre ich vielleicht hundert Jahre, tausend Jahre durch die Wildnis gewandert. Doch ich war ihm begegnet, ich hatte mich aufgehalten mit ihm, jetzt konnte ich nicht weiter. Ich sah den Mond am Himmel aufsteigen, und plötzlich hörte ich, wie ein Schuß das große Schweigen zerriß. Ich rührte mich nicht. Ich dachte: Für ihn ist es nun aus. Wird es mir niemals möglich sein, mir selber zu entfliehen und nichts zurückzulassen als dürre, nackte Knochen? Der Mond erstrahlte so hell, wie er eines Abends gestrahlt hatte, als ich fröhlich und fröstelnd aus einem schwarzen Kanal wieder ins Freie kam, und wie er geleuchtet hatte über jenen Häusern, die in Asche lagen: an jenem Abend heulte ein Hund; ich hörte noch jetzt den langgezogenen Klagelaut, der zu dem Block aus erstarrtem Licht aufstieg.Dieses tote Gestirn würde niemals erlöschen. Niemals würde das Gefühl der Einsamkeit und der Ewigkeit erlöschen, das für mich das einzige Gefühl meines Lebens war.
     
    «Ja, so mußte es enden», sagte Regine. Sie stand auf und schüttelte die Hälmchen ab, die an ihrem Kleid hafteten. «Gehen wir ein Stück weiter.»
    «Es hätte auch anders enden können», sagte Fosca. «Er hat es so gewollt.»
    «Es mußte so enden», sagte sie.
    Die Straße senkte sich zu einer Lichtung hinab, auf deren Grund die Dächer eines Dorfes erschienen. Sie gingen ihr schweigend nach.
    «So viel Mut werde ich nicht haben», sagte sie.
    «Gehört denn dazu Mut? Es handelt sich nur um ein paar Jahre   …»
    «Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen.»
    «Es muß doch eine große Beruhigung sein, wenn man weiß, man kann aufhören zu leben, sobald man will», sagte Fosca. «Auf die Weise läßt sich alles reparieren.»
    «Ich wollte leben», sagte Regine.
    «Ich habe es versucht», sagte Fosca. «Ich bin zu Carlier zurückgegangen, habe die Flinte genommen und mich in die Brust geschossen, dann in den Mund. Ich war lange davon betäubt. Doch als ich zu mir kam, war ich noch

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