Alle Menschen sind sterblich
ich.
Ich betrachtete den lehmigen Fluß und die ebene Landschaft. Manchmal kam es mir vor, als gehöre diese Erde nur mir allein, als könne keiner der vorübergehenden Erdengäste sie mir streitig machen; aber manchmal war es auch gerade umgekehrt: ich sah, mit welcher Liebe sie sie betrachteten, und dann fühlte ich, daß sie für mich allein ohne Antlitz und Stimme war; ich war an sie geschmiedet und doch davon ausgeschlossen.
Die Tage wurden wärmer, die Flußufer traten weiter zurück.Nach einer Woche wurde der Fluß so ausgedehnt wie ein See, und wir stellten fest, daß er sich in einen andern ergoß, dessen blaue Fluten rasch von unserer Rechten zur Linken jagten.
«Das ist der große Strom!» rief ich aus. «Dieser hier muß es sein.»
«Ja», sagte Carlier. Er schaute angstvoll hin. «Er fließt von Norden nach Süden.»
«Etwas weiter hin ändert er vielleicht seinen Lauf.»
«Das ist leider ausgeschlossen: wir sind hier kaum 200 Meter über dem Meeresspiegel.»
«Wir müssen abwarten», sagte ich. «Man kann es noch nicht wissen.»
Wir setzten unseren Weg weiter fort. Drei Tage lang floß das gelbe und das blaue Wasser nebeneinander hin, ohne sich zu vermischen; dann verlor sich unser Fluß endgültig in der großen, durchsichtigen Wasserwüste, die in Windungen durch die Savanne zog. Es war kein Zweifel mehr möglich: wir hatten den großen Strom entdeckt. Er war nicht von Klippen durchsetzt und nicht durch Stromschnellen abgesperrt, aber er floß von Norden nach Süden.
Einen ganzen Vormittag lang saß Carlier am Ufer und starrte zum Horizont, zu dem die Strömung Baumstämme so gut wie kleine Reiser trug. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
«Es ist nicht die Durchfahrt nach China geworden. Aber es ist ein großer Strom, von dessen Vorhandensein niemand etwas weiß. Kolumbus glaubte in Indien zu landen, als er eine Neue Welt betrat.»
«Ich pfeife auf den Strom», sagte Carlier mit dumpfer Stimme. «Die Durchfahrt wollte ich finden. Jetzt bleibt uns nichts weiter übrig, als wieder nach Montreal zurückzukehren.»
«Das wäre ja Wahnsinn!» rief ich aus. «Wir wollen bis zurMündung fahren. Später machst du dich dann von neuem auf die Suche nach der Durchfahrt.»
«Aber es gibt sie ja nicht», rief Carlier verzweiflungsvoll. «Nördlich von den Seen ist alles vergeblich abgesucht. Dieser große Strom war die letzte Chance.»
«Wenn sie nicht existiert, warum grämst du dich dann, daß du sie nicht gefunden hast?»
«Du verstehst mich nicht», meinte er achselzuckend. «Seitdem ich fünfzehn war, habe ich mir geschworen, die Durchfahrt zu entdecken. In Saint-Malo bereits hatte ich mir ein chinesisches Kostüm gekauft, es liegt in Montreal. Das hatte ich mitnehmen wollen, wenn ich nach China ginge.»
Ich bewahrte Schweigen. Es war so: ich verstand ihn nicht. Endlich sagte ich: «Wenn du, wie ich glaube, den Strom entdeckt hast, auf dem man diesen Erdteil von Norden nach Süden durchqueren kann, wirst du ebenso berühmt werden, als wenn du die Durchfahrt nach China entdeckt hättest.»
«Ich will ja gar nicht berühmt werden», rief er wütend aus.
«Du wirst damit den Menschen einen ebenso großen Dienst erweisen. Nach China können sie ja ruhig weiter auf dem alten Weg gelangen, es geht auch so.»
«Es geht auch ohne diesen Strom», antwortete Carlier.
Den ganzen Tag lang blieb er am Ufer sitzen, ohne etwas zu essen. Ich sprach ihm geduldig Mut zu, und am nächsten Morgen willigte er ein, die Entdeckungsfahrt fortzusetzen.
Die Tage gingen dahin. Wir kamen zu der Mündung eines schlammigen Flusses, der enorme Baumstämme mit sich flößte; unsere Ruderer hatten große Mühe, ihnen auszuweichen, da die Wasser um sie her einen Strudel bildeten, der unsere Kanus mit sich zu reißen drohte; endlich gelang es uns, ihnen zu entgehen. Ein paar Meilen weiter entdecktenwir ein Dorf: wir hatten schon nach unseren Flinten gegriffen, als der Mann am Steuer des ersten Kanus uns zurief:
«Alles ist verbrannt!»
Wir legten an. Die meisten der Hütten waren in Asche gelegt; auf dem Dorfplatz hingen verstümmelte und enthauptete Leichen an Pfählen; andere Leichen waren in den Hütten aufgehäuft. Am Ufer des Flusses fanden wir von den Knochen befreite, einbalsamierte Köpfe von der Größe einer Faust. Alle Dörfer, auf die wir an diesem Tag stießen, waren ähnlich verwüstet.
Der Strom wurde immer breiter; das Klima nahm an Wärme zu, die Vegetation wurde südlicher, und unsere Leute
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