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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Schatten der Palme in der Sonne und mich selber gegeben. Aber gerade in dem Augenblick, woder Stein grau zu werden begann, waren sie erschienen und hatten mir gesagt: «Kommen Sie mit uns.» Sie hatten mich am Arm gefaßt, mich in ihr Schiff gedrängt, mich ihre Kleider anziehen heißen und mich schließlich an der Küste des alten Erdteils abgesetzt. Und nun stand da Bompard in der Tür und sagte:
    «Soll ich wieder ausspannen lassen?»
    Ich richtete mich auf dem Ellbogen auf: «Kannst du mich nicht wenigstens ruhig schlafen lassen?»
    «Sie hatten den Wagen für sieben Uhr bestellt.»
    Ich sprang aus dem Bett. Jetzt wußte ich, weshalb ich nicht wieder hatte einschlafen können. Sie hatten mich aufgeweckt, und seitdem tauchten unaufhörlich neue Fragen auf. Was tun wir jetzt? Wohin gehen wir? Und was ich auch tat, wohin ich auch ging, immer war ich da.
    Während ich meine Perücke anlegte, fragte ich: «Wohin fahren wir?»
    «Sie hatten vor, Madame de Montesson zu besuchen.»
    «Hast du mir nichts Unterhaltenderes zu bieten?»
    «Graf Marsenac beklagt sich, daß er Sie nicht mehr bei seinen Soupers sieht.»
    «Er wird mich dort niemals mehr sehen», sagte ich.
    Wie hätte ich mich wohl amüsieren sollen bei ihren zaghaften Orgien, ich, der ich in den Straßen Rivellos, in den Straßen von Rom und von Gent erwürgte Kinder, vergewaltigte Frauen hatte aufschreien hören   …
    «Denke dir etwas anderes aus.»
    «Alles langweilt Sie», sagte er.
    «Ach! Man erstickt in dieser Stadt», rief ich aus.
    Paris war mir unermeßlich erschienen, als ich gelandet war, mit meiner Umhängtasche voll Gold und Diamanten. Aber jetzt kannte ich in- und auswendig alle seine Schenken, seine Theater, seine Salons, seine Plätze und Gärten: ich wußte, daß man mit ein wenig Geduld seine sämtlichen Einwohnereinzeln hätte aufzählen können. Es begab sich nichts, was nicht vorauszusehen war; selbst Morde, Schlägereien, Messerstechereien wurden von der Polizei in einer Statistik erfaßt.
    «Es hält Sie ja nichts in Paris», sagte Bompard.
    «Man erstickt auf dieser Erde», sagte ich.
    Die Erde war mir auch eines Tages unermeßlich vorgekommen, ich erinnerte mich noch. Ich stand oben auf einem Hügel und dachte: Da hinten liegt das Meer, und hinter dem Meer andere Erdteile, und so geht es unendlich fort. Jetzt wußte ich nicht nur, daß die Erde rund war, sondern auch, daß man längst ihren Umfang abgemessen hatte. Sie waren sogar dabei, ganz genau die Wölbung am Äquator und an den Polen festzustellen; sie waren ganz versessen darauf, sie noch kleiner zu machen, indem sie sie aufs sorgfältigste inventarisierten: sie hatten gerade jetzt eine Karte hergestellt, auf der Frankreich so genau abgebildet war, daß kein Dorf und kein Bach unverzeichnet blieb; wozu also noch reisen? Bevor sie noch begonnen hatte, lag jede Reise schon fest. Man hatte die Pflanzen und Tiere katalogisiert, die auf dem Planeten wohnten; es war nur eine begrenzte Zahl; und es gab nur eine geringe Menge von Landschaften, Farben, Geschmäckern, Gesichtern: es waren immer dieselben, die sich einfach sinnlos tausendfach wiederholten.
    «Dann steigen Sie auf den Mond», riet mir Bompard an.
    «Das ist meine einzige Hoffnung», pflichtete ich bei. «Man müßte den Himmel erstürmen.»
    Wir stiegen die Stufen der Freitreppe hinab, und ich befahl dem Kutscher:
    «Zum Hôtel Montesson!»
    Bevor wir in den Salon eintraten, blieb ich einen Augenblick in der Vorhalle stehen und sah mich spöttisch im Spiegel an; ich trug einen Rock aus prunefarbenem Samt mit goldener Stickerei: in 20   Jahren war es mir nicht gelungen,mich an diese Verkleidung zu gewöhnen; unter der weißen Perücke blieb mir mein Gesicht immer fremd. Die anderen fühlten sich ganz wohl in diesen lächerlichen Kleidungsstücken: sie waren klein und schmächtig; in Carmona, am Hofe Karls   V. hätten sie kümmerlich gewirkt; die Frauen waren häßlich mit ihren weißgepuderten Haaren und den roten Flecken, die auf den Wangen lagen, als ob sie entzündet wären. Die Gesichter der Männer wirkten peinlich auf mich, weil sie in unaufhörlicher Bewegung waren: sie lächelten, ihre Augen wurden schmal, ihre Nasen zogen sich zusammen; sie hörten keinen Augenblick auf zu sprechen und zu lachen. Schon von der Treppe her hörte ich sie lachen. Zu meiner Zeit war es Sache der Spaßmacher, Possen für uns zu reißen; wir lachten dann kräftig, aber nicht mehr als vier- oder fünfmal am Abend, nicht einmal

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