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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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erlegten Alligatoren. Dann überzogen sich die sumpfigen Ufer mit Schilf, zwischen dem sich hier und da ein Espengebüsch erhob; eines Tages fanden wir, im Schlamm eingewühlt, einen Taschenkrebs. Ich bückte mich und führte rasch etwas Wasser zum Mund: es war Brackwasser.
    Ein Stück weiter abwärts teilte sich der Fluß in drei Arme; nach einigem Zögern wählten wir den mittleren. Zwei Stunden lang schifften wir durch ein Labyrinth von niederen Inseln, Sandbänken, Schilf; plötzlich richteten sich ein paar Mann von der Besatzung auf und stießen Freudenrufe aus: wir waren am offenen Meer.
    «Bist du nicht glücklich?» fragte ich Carlier.
    Unsere Leute schlugen für die Nacht ein Lager auf. Sie richteten Truthähne, die sie im Laufe des Tages geschossen hatten, zum Braten her und lachten und sangen dabei.
    «Mein Astrolabium ist entzwei», sagte Carlier. «Ich kann den Längengrad nicht bestimmen.»
    «Was tut das?» sagte ich. «Wir kommen ja wieder her. Wir kommen über das Meer mit einem richtigen Schiff.»
    Aber sein Antlitz blieb finster.
    «Es ist eine große Entdeckung», sagte ich.
    «Deine Entdeckung», antwortete er.
    «Wieso?»
    «Du warst es, der mir in der Prärie das Leben gerettet hat. Du hast Hilfe von Montreal geholt. Du hast mir zugeredet, meinen Weg zu verfolgen. Ohne dich wäre ich nicht hier.»
    «Auch ich wäre nicht hier ohne dich», gab ich sanft zurück.
    Ich zündete meine Pfeife an und setzte mich zu ihm. Ich blickte aufs Meer hinaus: immer das gleiche Meer, das gleiche Rauschen, der gleiche Duft. Er schrieb ein paar Ziffern ins Bordbuch; ich warf einen Blick über seine Schulter.
    «Warum hast du so viele Tage lang nichts aufgeschrieben?» fragte ich. Er zuckte nur die Achseln.
    «Warum?»
    «Du hast dich ja lustig gemacht über mich!»
    «Ich mich lustig gemacht?»
    «O ja! Du hast zwar nichts gesagt, aber ich verstand deinen Blick.»
    Er ließ sich nach hinten fallen und lag auf dem Rücken da, die Augen zum Himmel erhoben.
    «Es ist fürchterlich, unter deinem Blick zu leben. Du siehst mich von so weit her an, du bist schon jenseits des Todes; für dich bin ich schon tot: ein Toter, der im Jahre 1651 30   Jahre alt war, der die Durchfahrt nach China suchte und einen großen Strom entdeckt hat, den ein wenig später auch ein anderer entdeckt hätte.»
    «Wenn du gewollt hättest», fügte er grimmig hinzu, «hättest du mich nicht gebraucht, um ihn zu entdecken.»
    «Aber ich konnte nicht wollen», sagte ich.
    «Und ich? Warum sollte ich wollen? Warum soll denn das, was für dich kein Interesse hat, für mich so etwas Besonderes sein? Warum soll ich mich freuen? Ich bin ja schließlich kein Kind.»
    In meinem Herzen brach etwas Trübes auf.
    «Willst du, daß wir uns trennen?» fragte ich.
    Er gab keine Antwort, und ich dachte bei mir mit einem Gefühl tiefer Trostlosigkeit: Wohin soll ich gehen, wenn ich ihn verlasse? Endlich sprach er doch:
    «Es ist zu spät», sagte er.
     
    Wir kehrten nach Montreal zurück, und im folgenden Frühjahr charterten wir ein Schiff; wir fuhren an der Küste des Kontinents entlang, umschifften Florida und näherten uns einem Gestade, dessen Breitengrad dem entsprach, den Carlier an der Mündung des großen Flusses festgestellt hatte; unglücklicherweise kannten wir die Länge nicht, und auf der Ufergegend lastete eine dichte Nebelschicht, die uns die Sicht benahm. Wir setzten die Fahrt nur langsam und mit großer Vorsicht fort, denn wir mußten so nahe wie möglich an das Land heran und fürchteten ein Riff.
    «Da seht!» rief einer der Matrosen uns zu.
    Es war einer der Männer, die schon an der vorigen Expedition teilgenommen hatten. Er zeigte auf die Küste, die im weißen Nebel nur undeutlich sichtbar war.
    «Seht ihr nichts?»
    Mit beiden Händen auf die Reling gestützt, spähte Carlier scharf aus.
    «Ich sehe eine Sandbank», sagte er.
    Ich bemerkte Schilf und mit grobem Ufersand bedeckte Landzungen.
    «Wasser!» sagte Carlier. «Ich erkenne Wasser.» Er rief: «Macht ein Boot klar!»
    Ein paar Minuten später hielten wir mit starken Ruderschlägen auf die Küste zu. Zwischen einem Labyrinth aus niederen Inseln und langgestreckten Sandbänken ergoß sich ein schlammiger Fluß durch eine mehrere Meilen breite Mündung ins Meer. Sicher, die gesuchte Flußmündung gefunden zu haben, kehrten wir zu unserer Fregatte zurück.
    Unsere Absicht war, den Fluß hinaufzufahren bis zu jenemSaumpfad, an dem ich Carlier begegnet war; dort würden wir ein

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