Alle Menschen sind sterblich
Wangen; sie mochte ihre schöne Gestalt noch stolzer straffen, ihren Blick und jede Bewegung ihrer Lippen beherrschen, aber sie konnte nicht verhindern, daß sie rot wurde, und in diesem Augenblick sah sie sehr jung und verwundbar aus.
«Sie werden doch nicht ein Kind töten», sagte sie. «Er ist ja doch ein Kind!»
Unvermittelt fragte ich: «Lieben Sie ihn?»
«Was geht Sie das an?»
«Wenn Sie ihn lieben, werde ich achtgeben, daß ich ihm nicht weh tue», sagte ich.
Sie sah mich angstvoll an; offenbar suchte sie zu erraten, welches Wort Richet retten konnte und welches ihn erst recht zugrunde richten würde; mit zitternder Stimme sagte sie: «Ich bin nicht in ihn verliebt, aber ich hege die zärtlichste Zuneigung für ihn. Ich flehe Sie an, ihn zu schonen.»
«Wenn ich ihn schone, werden Sie mich dann als Freund betrachten?»
«Ich werde Ihnen unendlich dankbar sein.»
«Und wie werden Sie das beweisen?»
«Indem ich Sie behandle wie einen Freund. Meine Tür wird Ihnen jeden Samstag geöffnet sein.»
Ich fing an zu lachen. «Ich fürchte, Ihre Tür wird sich samstags für niemanden mehr öffnen. Madame de Montesson scheint Ihre kleinen Veranstaltungen nicht besonders zu schätzen.»
Wieder errötete sie, und mit einer Art von starrem Staunen sah sie mich lange an. «Ich bemitleide Sie», sagte sie. «Ich bemitleide Sie wirklich sehr.»
In ihrer Stimme lag eine so aufrichtige Traurigkeit, daß ich ihr nicht zu antworten vermochte; ich stand wie angewurzelt da; war da doch noch jemand hinter meinem schemenhaftenSein, jemand, dessen Herz noch lebendig schlug? Es schien mir, daß wirklich ich es war, den sie mit ihren Worten getroffen hatte; ihr Blick hatte mich durchbohrt; unter Verkleidungen, Masken, unter der Rüstung, die die Jahrhunderte mir geschmiedet hatten, gab es ein Wesen, gab es mich: ein bemitleidenswürdiges Wesen, das sich mit jammervollen kleinen Bosheiten unterhielt; wirklich, mich bedauerte sie, so wie sie mich gar nicht kannte, aber wie ich war.
«Hören Sie mich an …»
Sie hatte sich entfernt; was hätte ich auch sagen können? Welches wahre Wort hätte von mir zu ihr einen Weg finden können? Eines war gewiß: Ich hatte dafür gesorgt, daß sie aus diesem Haus verjagt werden würde, sie aber bedauerte mich; doch alle Entschuldigungen oder Herausforderungen, die ich vorbringen konnte, würden nichts als Lügen sein.
Ich ging zur Tür hinaus. Draußen war eine schöne, kühle, mondscheindurchflutete Nacht. Die Straßen lagen verlassen da. Die Leute hockten alle in ihren warmen Salons oder Dachkämmerchen: jedenfalls daheim. Ich war nirgends zu Hause; ein Haus, das ich bewohnte, war niemals ein Haus gewesen, sondern nur eine Unterkunft. Dies Jahrhundert war nicht das meine, und dies Leben, das sinnlos in mir weiterlief, war auch nicht mein Leben. Ich bog um eine Straßenecke und befand mich am Ufer des Flusses; mein Blick fiel auf die Chorhaube der Kathedrale mit ihren weißen Schwibbogen und den Figuren, die wie in einer Prozession oben vom Dach herunterschritten; der Fluß glitt kalt und schwarz zwischen den efeubedeckten Mauern dahin; aus seinen Tiefen sah der runde Mond mich an. Ich ging, und er ging mit, er war dort unten im Wasser und in den Tiefen des Himmels, dieser verhaßte Mond, der mich seit fünfhundert Jahren begleitete und alles zum Erstarren brachte unter seinem eisigen Blick. Ich lehnte mich an die steinerne Rampe; starrreckte sich die Kirche auf in dem toten Licht, einsam und unmenschlich wie ich selbst; alle Menschen, die uns jetzt umgaben, würden einmal sterben, aber wir beide würden immer noch aufrecht stehen. Eines Tages, dachte ich, wird auch sie zusammenstürzen, und an ihrer Stelle wird nichts sein als ein Trümmerhaufen, und eines Tages wird keine Spur mehr von ihr übrig sein, der Mond wird am Himmel glänzen, und ich bin immer noch da.
Ich ging dem Fluß nach. Vielleicht blickte auch Richet in diesem Augenblick zum Mond auf; er sah vielleicht Mond und Sterne an und dachte: Ich sehe sie zum letztenmal. Er dachte an jedes einzelne Lächeln von Marianne de Sinclair zurück und fragte sich: Habe ich sie zum letztenmal gesehen? In Furcht und Hoffnung fiebernd, wartete er den Morgen ab. Wäre ich sterblich gewesen, so hätte auch mein Herz geschlagen, und diese Nacht wäre eine Nacht ohnegleichen geworden; der fahle Lichtschein am Himmel wäre das Winken des Todes gewesen, der mich erwartet hätte am Ende des düsteren Quais. Aber nein. Mir würde niemals
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