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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mein Auge dicht ans Okular und betrachtete den grauen Staub; auf einmal aber spürte ich den Hauch des großen Gewitterwindes, den ich so gut kannte; er fing sich in dem weiten Forschungsraum, fegte die Retorten hinweg und riß das Dach über meinem Haupt fort, so daß mein Leben wie ein Schrei, wie eine Flamme zum Himmel stob; ich spürte ihn inmeinem Herzen, er brannte, er schwang sich aus meiner Brust hervor; ich spürte ihn in meinen Händen zucken: als eine wilde Gier zu zerbrechen, zu schlagen oder zu strangulieren; schon krampften sie sich um das Mikroskop.
    «Gehen wir fort von hier», sagte ich.
    «Sie wollen fort?»
    «Ja. Komm.»
    «Ich würde viel lieber schlafen gehen.»
    «Du schläfst zuviel», sagte ich. «Du wirst dick.» Ich schüttelte den Kopf: «Ja, Altwerden ist etwas Trauriges.»
    «Oh! Ich stecke ebenso gern in meiner Haut wie Sie in der Ihrigen», sagte er.
    «Es ist immer das beste, gute Miene zu den Dingen zu machen, die man nicht ändern kann», sagte ich. «In deiner Jugend warst du aber doch ehrgeizig?»
    «Es bedeutet eine gewisse Stärkung für meine Seele», meinte er lächelnd, «daß es mir niemals möglich sein wird, so unglücklich zu sein wie Sie.»
    Ich warf meinen Mantel um, nahm meinen Hut und sagte: «Ich habe Durst. Gib mir zu trinken.»
    Hatte ich wirklich Durst? In meinem ganzen Körper war ein schmerzhaftes Verlangen, aber nicht nach Nahrung, nach einem Trunk oder einer Frau. Ich nahm das Glas, das Bompard mir reichte, und leerte es auf einen Zug; ich stellte es auf ein Tischchen und verzog den Mund.
    «Ich habe Verständnis», sagte ich, «für deine experimentierende Methode. Sicher würde auch ich, wenn ein Mann behauptet, daß er unsterblich sei, selber die Probe machen. Aber ich bitte dich, tu mir künftighin nicht wieder Arsenik in den Wein.»
    «Tatsächlich müßten Sie schon hundertmal gestorben sein.»
    «Finde dich damit ab», sagte ich. «Ich sterbe nun einmal nicht.» Ich lächelte. Ich verstand es sehr gut, so zu lächelnwie sie. «Außerdem wäre es für dich ein Verlust; du hast keinen besseren Freund als mich.»
    «Und Sie keinen besseren als mich», sagte er.
    Ich begab mich zum Hôtel der Madame de Montesson. Weshalb hatte ich Lust, ihre Gesichter wiederzusehen? Ich wußte, daß ich nichts von ihnen zu erwarten hatte. Aber ich konnte es nicht ertragen, sie lebend unter dem Himmel zu wissen und ganz allein zu sein in meinem Grab.
    Madame de Montesson arbeitete, in der Kaminecke sitzend, an ihrer Stickerei, und ihre Freunde bildeten Cercle um sie: nichts hatte sich geändert. Marianne de Sinclair reichte den Kaffee, und Richet sah ihr mit alberner Genugtuung dabei zu; sie lachten und unterhielten sich; alle diese Wochen hindurch war meine Abwesenheit niemand aufgefallen; zornig gelobte ich mir: Ich werde sie dazu zwingen, meine Gegenwart zu bemerken.
    Ich trat zu Marianne de Sinclair; mit ruhiger Stimme fragte sie mich:
    «Eine Tasse Kaffee?»
    «Danke. Ich brauche Ihre Drogen nicht.»
    «Wie Sie wünschen.»
    Sie lachten, sie sprachen, sie waren zufrieden, beisammen zu sein, sie waren überzeugt, daß sie lebten und glücklich waren; es war nicht möglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
    «Haben Sie über unsere letzte Unterhaltung nachgedacht?» fragte ich.
    «Nein.» Sie lächelte. «Ich denke so wenig wie möglich an Sie.»
    «Ich sehe, Sie versteifen sich darauf, mich zu verachten.»
    «Ich bin sehr starrsinnig.»
    «Ich nicht weniger», sagte ich. «Man hat mir erzählt, Ihre Zusammenkünfte seien sehr interessant. Man beschäftigt sich dort mit den fortgeschrittenen Ideen, und die bestenGeister des Jahrhunderts verschmähen diesen alten Salon, um sich bei Ihnen zusammenzufinden   …»
    «Entschuldigen Sie mich», sagte sie, «ich muß den Kaffee herumreichen.»
    «Dann werde ich mich mit Madame de Montesson unterhalten», sagte ich.
    «Bitte sehr.»
    Ich beugte mich über den Sessel, in dem die Herrin des Hauses saß; sie bereitete mir immer einen bevorzugten Empfang; meine Bosheit belustigte sie. Während wir den letzten Klatsch vom Hofe und aus der Stadt durchgingen, begegnete ich dem Blick von Marianne de Sinclair; sofort schaute sie weg, aber wenn sie auch gleichgültig tat, wußte ich doch genau, daß sie beunruhigt war. Ich hegte keinen Groll gegen sie; sie verabscheute mich, aber in Wirklichkeit haßte oder liebte keiner eigentlich mich: es handelte sich um eine bloß angenommene Persönlichkeit, für die ich selber gar kein Interesse

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