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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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hatte; was für ein Gefühl hätte ich selbst einflößen sollen? Beatrice hatte eines Tages zu mir gesagt: «Du bist weder geizig noch großzügig, weder mutig noch feige, weder böse noch gut»; tatsächlich war ich niemand. Ich folgte Marianne de Sinclair mit dem Blick; sie kam und ging durch den Salon; in ihrer lässigen, edlen Haltung lag etwas, was mir gefiel; unter der leichten Wolke, die darüber lag, erkannte man die Masse kastanienbraunen Haars; blaue Augen blitzten in ihrem lebendigen Gesicht; nein, ich hatte nichts gegen sie. Aber ich wollte gern wissen, was aus soviel ruhiger Würde im Unglück werden mochte.
    «Heute abend sind nicht viel Leute hier», sagte ich.
    Madame de Montesson hob den Kopf und warf einen raschen Blick auf den Kreis. «Das macht das schlechte Wetter.»
    «Ich glaube auch, der Sinn für rein spekulative Unterhaltung geht allmählich verloren: die Leute sind alle so von Politik besessen   …»
    «Unter meinem Dach», sagte sie mit großer Bestimmtheit, «wird nie von Politik gesprochen werden.»
    «Sie haben recht», sagte ich. «Ein Salon ist ein Salon und kein Klub. Es scheint aber, daß die Samstage von Mademoiselle de Sinclair sich allmählich zu öffentlichen Versammlungen auswachsen   …»
    «Was für Samstage? Wovon sprechen Sie?» fragte Madame de Montesson.
    «Wissen Sie das denn nicht?» fragte ich.
    Sie sah mich mit ihren kleinen, durchdringenden Augen an: «Sie wissen ganz genau, daß ich es nicht weiß. Marianne empfängt samstags? Seit wann?»
    «Seit einem halben Jahr hält sie in ihrem Zimmer glänzende Versammlungen ab, in denen man daran arbeitet, die Gesellschaft zu zerstören und wieder aufzubauen.»
    «Sieh an! Diese kleine Heimlichtuerin!» rief sie mit kurzem Auflachen aus. «Die Gesellschaft zerstören und wieder aufbauen: das muß ja passionierend sein!»
    Sie beugte sich wieder über ihre Handarbeit, und ich trat zurück von ihrem Stuhl. Der kleine Richet, der sich gerade lebhaft mit Marianne de Sinclair unterhielt, kam auf mich zu.
    «Sie haben soeben eine große Gemeinheit begangen», sagte er.
    Ich lächelte. Er hatte einen großen Mund, hervortretende Augen, und trotz seinem aufrichtigen Zorn wirkte er nur noch naiver in seinem Bestreben nach Würde; er war einfach lächerlich.
    «Sie werden mir dafür Genugtuung geben», sagte er.
    Ich lächelte immer noch. Er wollte mich provozieren. Offenbar wußte er nicht, daß ich keine Ehre zu verteidigen hatte, keinen Zorn zu beschwichtigen. Es hinderte mich aber auch nichts, ihn zu ohrfeigen, zu verprügeln, ihn zu Boden zu werfen. Ich unterstand keiner ihrer Konventionen. Wennsie gewußt hätten, wie frei ich ihnen gegenüber war, so hätten sie erst wirklich Angst vor mir gehabt.
    «Lachen Sie nicht», sagte er.
    Er kam aus dem Konzept; er hatte sich nicht vorgestellt, daß die Dinge so verlaufen würden; der Mut und der Stolz, die er in sich entfacht hatte, reichten jetzt nicht aus, mein Lächeln zu ertragen.
    «Haben Sie es so eilig, zu sterben?» fragte ich.
    «Ich habe es eilig, die Welt von Ihrer Gegenwart zu befreien», sagte er.
    In seinem leidenschaftlichen Eifer machte er sich nicht klar, daß der Tod, den er in die Schranken forderte, ihn selber treffen würde; und dabei hätte ein Wort genügt   …
    «Wollen wir uns um fünf Uhr an der Barrière von Passy treffen? Bringen Sie Ihre Zeugen mit.» Ich fügte noch hinzu: «Ein Arzt wird, glaube ich, nicht erforderlich sein; ich bringe keine Verwundungen bei; ich töte auf der Stelle.»
    «Um fünf Uhr an der Barrière von Passy.»
    Er ging durch den Salon, sagte ein paar Worte zu Marianne de Sinclair und schritt zur Tür; auf der Schwelle blieb er stehen; er sah sich noch einmal um, sicher dachte er: Vielleicht sehe ich sie zum letztenmal. Noch vor ein paar Minuten hatte er 30 bis 40   Lebensjahre vor sich gehabt und nun auf einmal nur noch eine Nacht. Als er verschwunden war, trat ich zu Marianne de Sinclair.
    «Interessieren Sie sich für Richet?» fragte ich.
    Sie zögerte; sie hätte mich gern mit vernichtender Verachtung gestraft, aber sie hatte auch Lust, zu wissen, was ich ihr sagen würde.
    «Ich interessiere mich für alle meine Freunde», sagte sie.
    Ihre Stimme war eisig, aber ich spürte unter der Maske der Gleichgültigkeit ihre fiebernde Neugierde.
    «Hat er Ihnen gesagt, daß wir uns schlagen werden?»
    «Nein.»
    «Ich habe in meinem Leben elf Duelle gehabt: jedesmal habe ich meinen Gegner getötet.»
    Das Blut stieg ihr in die

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