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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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etwas geschehen; auch dieses Duell war nur Schein. Immer war es die gleiche Nacht ohne Abenteuer, ohne Freuden und Schmerzen. Eine einzige Nacht und ein einziger Tag spielten sich unendlich durch die Ewigkeit hindurch ab.
    Der Himmel wurde fahler, als ich an die Barrière von Passy kam. An einem Abhang setzte ich mich. Ich hörte in mir die Worte: «Ich bemitleide Sie.» Marianne hatte recht. Es war wirklich ein bemitleidenswertes Geschöpf, das hier an diesem Rasenhang saß und auf den Augenblick wartete, wo es einen sinnlosen Mord begehen würde. Städte hatten in Flammen gestanden, Heere einander vernichtet, in meinen Händen war ein Reich erwachsen und wieder zusammengebrochen. Und da saß ich, leer und gedankenlos, im Begriff, einen Menschen zu töten, ohne Wagnis und ohne Lust, nur aus Langeweile. Wer war beklagenswerter als ich?
    Der letzte Stern erlosch, als ich Richet auf mich zukommen sah. Er kam langsam näher, den Blick auf die Füße gesenkt, die der Morgentau netzte. Auf einmal mußte ich an eine ferne Stunde denken, eine so ferne Stunde, daß ich sie für immer versunken gewähnt hatte. Ich war sechzehn Jahre alt, und an einem Nebelmorgen saß ich zu Pferde, die Lanze in der Hand, die Waffen der Genueser funkelten in der Morgensonne, und ich hatte Angst. Und weil ich Angst hatte, war das Licht zärtlicher, und jungfräulicher der Tau als jeden anderen Morgen; eine Stimme sagte in mir: Sei tapfer! Niemals hatte jemand zu mir so freundschaftlich gesprochen. Die Stimme war zum Schweigen gekommen: die Frische des Morgens war dahin. Ich kannte weder Furcht noch Mut. Ich erhob mich, und Richet reichte mir einen Degen. Um ihn her ging der Morgen zum letztenmal auf, und zum letztenmal stieg der kühle Erdgeruch in die Luft empor. Er war bereit zu sterben, aber er hielt sein Leben dicht ans Herz gepreßt.
    «Nein», sagte ich.
    Er hielt mir den Degen hin, aber ich rührte mich nicht, meine Hand blieb schlaff an meinem Körper hängen   … Nein, ich würde mich nicht schlagen. Ich sah die beiden Männer an, die hinter Richet standen.
    «Ich nehme Sie zu Zeugen, daß ich es ablehne, mich zu schlagen.»
    «Warum?» fragte Richet.
    Er sah beunruhigt aus und enttäuscht.
    «Ich habe keine Lust, mich zu schlagen. Ich möchte mich lieber entschuldigen.»
    «Sie haben ja wohl nicht Angst vor mir», sagte er erstaunt.
    «Ich wiederhole, daß ich mich in aller Form entschuldige.»
    Er blieb ratlos vor mir stehen, er wurde seinen Mut nichtlos, der so vergeblich wie mein Haß, mein Zorn, meine Mißgunst war; einen Augenblick lang war er wie ich verloren unter dem Himmel, vom Leben losgelöst, in seine Existenz zurückgeworfen, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Ich wandte ihm den Rücken und ging mit großen Schritten nach der Landstraße zu. In der Ferne krähte ein Hahn.
     
    Ich bohrte das Ende meines Spazierstocks in den Ameisenhaufen und wühlte ihn auf von rechts nach links; sofort stürzten sie heraus, alle schwarz, alle gleich, tausend Ameisen oder eigentlich nur tausendmal dieselbe; in der Tiefe des Parks, von dem mein Landhaus umgeben war, hatten sie in 20   Jahren diesen riesigen, wimmelnden Haufen erbaut; sie liefen nach allen Seiten, regelloser als Blasen, die beim Prozeß der Erhitzung in meinen Retorten aufstiegen, und doch nach einem festen Plan; gab es wohl auch hier eifrige, träge, kopflose, zuverlässige, oder schafften alle mit der gleichen dummen Besessenheit? Ich hätte sie gerne alle einzeln mit den Blicken verfolgt, aber sie machten zu verwickelte Figuren in diesem tollen Ballett; man hätte ihnen rote, gelbe, grüne Bändchen umbinden sollen   …
    «Na, haben Sie vor, die Ameisensprache zu lernen?» fragte mich Bompard.
    Ich hob den Kopf; es war ein schöner Junitag, die Linden dufteten. Bompard hielt eine Rose in der Hand. Er lächelte.
    «Sie ist meine Erfindung», sagte er stolz.
    «Sie sieht aus wie alle Rosen», bemerkte ich.
    «Sie haben eben keine Augen dafür», sagte er achselzuckend.
    Er ging seiner Wege. Seitdem wir uns nach Crécy zurückgezogen hatten, beschäftigte er sich mit dem Okulieren von Rosen. Wieder wandte ich mich den geschäftigen Ameisen zu, aber sie interessierten mich nicht mehr. In dem Spezialofen,den ich mir hatte bauen lassen, verzehrte sich gerade ein Diamant auf dem Grund eines Goldtiegels; auch das interessierte mich nicht mehr. Auf alle Fälle würde in ein paar Jahren jeder Schulbub das Geheimnis der einfachen und zusammengesetzten Körper

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