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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gelang es mir manchmal, mich zu vergessen. Man mußte anerkennen, daß sie erstaunliche Entdeckungen gemacht hatten. Als ich den alten Erdteil wieder betrat, vernahm ich zu meiner Verwunderung, daß die Erde, die ich für unbeweglich im Himmel schwebend gehalten hatte, um sich selbst und um die Sonne kreiste; die geheimnisvollsten Naturerscheinungen: der Blitz, der Regenbogen, Ebbe und Flut hatten ihre Erklärung gefunden; man hatte bewiesen, daß die Luft eine gewisse Schwere habe, und man verstand sie zu wägen; sie hatten die Erde kleiner gemacht, aber das Weltall größer: der Himmel war mit neuen Sternen besetzt, die die Astronomen am anderen Ende ihres Fernrohrs aufgezeigt hatten; dank dem Mikroskop hatte sich eine unsichtbare Welt offenbart; im Schoße der Natur hatte man neue Kräfte entdeckt und war dabei, sie zu bändigen. Übrigens waren sie recht dumm, auf ihre Entdeckungen so stolz zu sein; keiner von ihnen würde den Schluß der Geschichte erfahren, sie würden alle vorher sterben; ich aber würde mir ihr Bemühen zunutze machen,und ich würde wissen; an dem Tag, wo die Wissenschaft ihr letztes Wort gesagt haben würde, würde ich noch da sein. Sie hatten alle für mich gewirkt. Ich schaute die Retorten, die Reagenzgläser und die stillstehenden Maschinen an. Ich legte meine Hand auf eine Glasplatte; ruhig lag sie unter meinen Fingern da, ein Stück Glas wie alle anderen, die ich fünfhundert Jahre lang gesehen und angerührt hatte; alle Gegenstände um mich her waren leblos und schweigend, wie sie immer waren; und doch genügte es, ein solches Stück toter Materie zu reiben, um unbekannte Kräfte an seine Oberfläche zu locken; unter dem äußeren Anschein der Ruhe wirkten dunkle Mächte; auf dem Grund der Luft, die ich atmete, der Erde, die ich durchforschte, webte ein Geheimnis. Eine unbekannte Welt, neuer und überraschender als die Bilder meiner Träume, verbarg sich hinter der alten Schöpfung, deren ich so müde war. Zwischen diesen mich umgebenden vier Wänden fühlte ich mich freier als in den Straßen, die mir kein Abenteuer mehr boten, als in den unendlichen Ebenen des neuen Kontinents. Eines Tages würden die abgenutzten Formen und Farben, denen ich bislang nicht entrinnen konnte, in ein Nichts zerstieben, eines Tages würde ich den regungslosen Himmel stürmen, an dem sich ebenso regungslos die Jahreszeiten abzeichneten; eines Tages würde ich die Rückseite dieser trügerischen Dekors betrachten, von dem die Augen der Menschen sich ewig narren ließen. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich dann sehen würde; es genügte mir, zu wissen, daß es etwas anderes sein würde; vielleicht ließe es sich weder mit den Augen oder Ohren noch mit den Händen erfassen; vielleicht konnte ich dann vergessen, daß ich jemals Augen, Ohren oder Hände gehabt hatte; vielleicht würde ich für mich selber dann ein anderer sein.
     
    Ein schwarzer Niederschlag blieb auf dem Boden der Retorte zurück, und Bompard bemerkte spöttisch:
    «Das ist schiefgegangen.»
    «Es beweist nur, daß in dieser Kohle noch Unreinigkeiten waren», sagte ich. «Ich muß es noch einmal versuchen.»
    «Wir haben schon hundertmal versucht», sagte er.
    «Aber wir haben niemals wirklich reine Kohle verwendet.»
    Ich kehrte die Retorte um und breitete die Asche auf einer Glasplatte aus. War dies wirklich nur ein Rückstand von Fremdkörpern? Oder enthielt die Kohle ein mineralisches Gerüst? Die Tatsachen ließen das nicht erkennen.
    «Man müßte das Experiment mit Diamanten machen.»
    Bompard zuckte die Achseln: «Wie sollen wir Diamanten verbrennen?» fragte er.
    Hinten im Laboratorium knisterte leise das Feuer. Draußen wurde es dunkel. Ich trat an die Glastür. Die ersten Sterne erschienen im tiefen Blau des Himmels, man konnte sie noch zählen; verborgen in der Dämmerung gibt es Millionen über Millionen, die darauf warteten, ihrerseits aufzugehen; andere gab es noch, die für unsere schwachen Augen unsichtbar bleiben würden; aber immer dieselben gingen als erste auf; seit Jahrhunderten hatte sich das Himmelsgewölbe nicht geändert; seit Jahrhunderten war da über meinem Haupt das gleiche eisige Funkeln. Ich trat wieder an den Tisch, auf dem Bompard das Mikroskop aufgestellt hatte. In den Salons erschienen jetzt die ersten Gewohnheitsgäste, die Frauen schmückten sich für den Ball, Gelächter erklang in den Schenken; für sie alle war dieser anbrechende Abend anders als alle anderen, er war etwas Einmaliges. Ich hielt

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