Alle Menschen sind sterblich
kennen; ich konnte ruhig warten. Ich legte mich auf den Rücken ins Gras und blickte zum Himmel empor. Auch für mich war er noch so blau wie in den schönen Tagen von Carmona, auch ich spürte den Duft der Linden und Rosen. Und doch würde ich wiederum diesen Frühling vergehen lassen, ohne ihn zu erleben; hier war eine neue Rose entstanden; dort waren die Wiesen vom Schnee der Mandelbäume überstreut; und ich, ein Fremder hier wie dort, schritt wie ein Abgeschiedener durch diese Zeit der Blüte.
«Monsieur!»
Wieder stand Bompard vor mir.
«Da ist eine Dame, die Sie sprechen möchte; sie ist mit dem Wagen aus Paris gekommen und will Sie persönlich sehen.»
«Eine Dame?» fragte ich erstaunt.
Ich stand auf, schüttelte die Erde von meinem Rock und ging dem Haus zu. Damit schlage ich vielleicht eine Stunde tot. Es war Marianne de Sinclair; in einem lilagestreiften Leinenkleid saß sie in einem Rohrsessel unter dem großen Lindenbaum; ihre ungepuderten Haare fielen in Locken auf ihre Schultern.
Ich verneigte mich vor ihr: «Welche Überraschung!»
«Ich störe Sie doch nicht?»
«Aber nein.»
Ich hatte nicht den Klang in ihrer Stimme vergessen. «Ich bemitleide Sie.» Sie hatte diese Worte ausgesprochen, und in dem gleichen Augenblick war aus einem bloßen Phantom ein Mann von Fleisch und Blut geworden; dieser auf eine kleinliche und verbrecherische Weise grausame Mensch standjetzt vor ihr; war es Haß, Verachtung, Mitleid, was in ihren Augen lag? Dieses ängstliche und beschämte Gefühl, das mir das Herz zusammenzog, brachte mir von neuem zum Bewußtsein, daß wirklich ich es war, auf dem ihre Blicke ruhten.
Sie wandte den Kopf zur Seite: «Wie hübsch ist dieser Park», sagte sie. «Sie sind gern auf dem Land?»
«Ich bin vor allem gern weit weg von Paris.»
Nach einem kurzen Schweigen fuhr sie etwas zögernd fort: «Ich wollte Sie schon lange gern sehen; ich wollte Ihnen danken, daß Sie das Leben Richets geschont haben.»
«Danken Sie mir nicht», antwortete ich kurz. «Ich habe es nicht Ihretwegen getan.»
«Das macht nichts», sagte sie. «Sie haben großherzig gehandelt.»
«Es war keine Großherzigkeit», rief ich ungeduldig aus.
Es verdroß mich, daß auch sie sich durch jene fremde Persönlichkeit täuschen lassen sollte, die je nach meinen Handlungen wie ein Mantel um mich lag.
Sie lächelte: «Ich glaube, wenn Sie eine gute Tat begangen haben, suchen Sie immer schlechte Gründe dafür.»
«Glauben Sie, daß ich Sie aus guten Motiven bei Madame de Montesson verraten habe?» fragte ich.
«Oh! Ich will nicht behaupten, daß Sie nicht ebensogut zu einer niedrigen Handlung fähig wären», sagte sie mit ruhiger Stimme.
Ich betrachtete sie in plötzlicher Verwirrung; sie sah viel jünger aus als im Salon von Madame de Montesson, und sie schien mir auch schöner. Was wollte sie bei mir?
«Sie sind mir nicht mehr böse?»
«Nein. Sie haben mir einen Dienst erwiesen», gab sie fröhlich zurück. «Ich wollte ja schließlich nicht mein Leben lang die Sklavin einer selbstsüchtigen Greisin bleiben.»
«Um so besser», sagte ich. «Stellen Sie sich vor, daß ich beinahe Reue empfand.»
«Sie hatten unrecht. Mein Leben ist viel interessanter seither.»
Es lag ein Anflug von Trotz in ihrer Stimme, und ich fragte etwas brüsk: «Sind Sie hergekommen, mir Absolution zu erteilen?»
Sie schüttelte den Kopf: «Ich bin gekommen, um Ihnen von einem Plan zu sprechen …»
«Von einem Plan?»
«Schon lange möchten meine Freunde und ich eine freie Universität gründen als Ergänzung für den unzulänglichen offiziellen Unterricht; wir sind der Meinung, daß die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Geistes einen großen Einfluß auf den politischen und sozialen Fortschritt hat …»
Sie sprach mit sichtlicher Schüchternheit; sie unterbrach sich und reichte mir ein Heft, das sie in der Hand hielt.
«Alle diese Ideen sind in dieser Broschüre dargelegt», sagte sie.
Ich nahm die Broschüre und schlug sie auf; sie begann mit einer ziemlich langen Auslassung über die Vorteile der experimentierenden Methode und über die moralischen und politischen Folgen, die sich aus ihrer Verbreitung ergeben würden; dann folgte ein Arbeitsprogramm der zukünftigen Universität; schließlich verkündeten ein paar in bestimmtem und leidenschaftlichem Ton verfaßte Seiten das Heraufkommen einer besseren Welt. Ich legte das Heftchen auf meine Knie.
«Haben Sie das verfaßt?»
Sie lächelte etwas
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