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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ich müßte Sie lieben. Dann wären Sie da, und ich wäre, wo Sie jetzt sind.»
    «Mein armer Fosca», sagte sie. «Ich liebe Sie nicht», fügte sie hinzu.
    Er sah ihr ins Gesicht und brachte langsam, mit aufmerksamer Miene, die Worte hervor: «Sie lieben mich nicht.» Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er. «Es hat keinen Zweck. Sie müßten sagen: ‹Ich liebe Sie.›»
    «Aber Sie lieben mich ja auch nicht», sagte sie.
    «Ich weiß es nicht», sagte er. Er beugte sich über sie. «Ich weiß, daß Ihr Mund existiert», sagte er unerwartet rauh. Seine Lippen preßten sich auf Regines Mund: sie machte die Augen zu. Nacht brach auf einmal aus; vor Jahrhunderten hatte sie begonnen, und niemals würde sie enden. Ein aus der Tiefe der Zeiten kommendes brennendes, wildes Verlangen ließ sich nieder auf ihren Mund, und sie gab sich dem Kuß hin. Es war der Kuß eines Narren, in einem Zimmer, das nach Ammoniak roch.
    «Lassen Sie mich», sagte sie und stand auf. «Ich muß jetzt gehen!»
    Er machte keine Bewegung, um sie zurückzuhalten.
    Sobald sie die Schwelle der Wohnung überschritten hatte, tauchten Roger und Annie aus ihrem Studio auf.
    «Woher kommst du denn?» fragte Roger. «Warum bist du nicht zum Abendessen gekommen? Warum hast du bei der Probe gefehlt?»
    «Ich habe», sagte Regine, «nicht auf die Zeit geachtet.»
    «Nicht auf die Zeit geachtet? Mit wem warst du denn zusammen?»
    «Man kann doch nicht immer die Augen auf der Uhr haben», rief sie ungeduldig. «Als wenn alle Stunden immer gleich aussähen! Als hätte es einen Sinn, damit die Zeit zu messen!»
    «Was ist in dich gefahren?» fragte Roger. «Woher kommst du denn?»
    «Ich hatte so ein schönes Essen gekocht», sagte Annie. «Es gab Käsekrapfen.»
    «Krapfen   …» sagte Regine.
    Sie fing zu lachen an. Um sieben Uhr Käsekrapfen, und um acht Uhr Shakespeare. Jedes Ding an seinem Platz, jede Minute an ihrem Platz: nur nichts umkommen lassen, es ist noch schnell genug aus. Sie setzte sich und zog langsam ihre Handschuhe aus. Da drüben gibt es in einem Zimmer mit staubigem Fußboden einen Mann, der sich für unsterblich hält.
    «Bei wem warst du denn?» fing Roger wieder an.
    «Bei Fosca.»
    «Wegen Fosca hast du deine Probe versäumt?» rief er in ungläubigem Ton aus.
    «Eine Probe ist doch nicht so etwas Wichtiges», sagte sie.
    «Regine, sag mir die Wahrheit», sagte Roger. Er blickte ihr in die Augen und fragte in seiner direkten Art: «Was ist vorgefallen?»
    «Ich war bei Fosca und habe dabei die Zeit vergessen.»
    «Du wirst eben auch schon verrückt», sagte Roger.
    «Ich wollte, es wäre so», sagte sie.
    Sie ließ ihre Blicke rundum schweifen. Mein Salon. Meine Sachen. Er liegt auf der gelben Bettdecke dort, wo ich nicht mehr bin, und er glaubt das Lächeln Dürers gesehen zu haben, die Augen Karls   V.   Er wagt es wirklich, zu glauben   …
    «Er ist ein sehr merkwürdiger Mensch», sagte sie.
    «Er ist ein Narr», gab Roger zurück.
    «Nein. Viel merkwürdiger. Er hat mir anvertraut, daß er unsterblich ist.»
    Verächtlich blickte sie die beiden an; sie sahen töricht aus   …
    «Unsterblich?» stieß Annie hervor.
    «Er ist im 13.   Jahrhundert geboren», erklärte ihnen Regine mit unbeteiligter Stimme. «Im Jahre 1848 ist er in einem Wald eingeschlafen und sechzig Jahre dort geblieben, dann hat er dreißig Jahre in einer Anstalt zugebracht.»
    «Hör doch», sagte Roger, «mit diesem Unsinn auf.»
    «Warum sollte er denn nicht unsterblich sein?» fragte sie herausfordernd. «Mir kommt das nicht wunderbarer vor, als daß man stirbt und geboren wird.»
    «Aber ich bitte dich», rief Roger.
    «Und selbst wenn er nicht unsterblich ist, so hält er sich doch dafür.»
    «Das ist eine klassische Form von Größenwahn», äußerte Roger, «und nicht interessanter, als wenn sich jemand für Karl den Großen hält.»
    «Wer sagt dir denn», warf Regine ein, «daß ein Mann, der sich für Karl den Großen hält, nicht interessant ist?» Zornröte stieg ihr auf einmal ins Gesicht. «Glaubt ihr beiden denn, ihr wäret so interessant?»
    «Sie sind nicht eben höflich», entgegnete Annie in verletztem Ton.
    «Und ihr möchtet», sagte Regine, «daß ich euch ähnlichwäre. Und ich habe auch angefangen, so ähnlich zu werden wie ihr.»
    Sie stand auf, ging auf ihr Schlafzimmer zu und schloß geräuschvoll die Tür hinter sich. Kleine Menschen. Kleine Existenzen. Warum bin ich nicht auf dem Bett geblieben? Warum habe ich Angst

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