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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Regine ergriff ein Handtuch, tauchte es in Wasser und drückte es darauf. Sie zitterte am ganzen Leibe. Mit Entsetzen starrte sie in das faltenlose und doch nicht junge Gesicht, das vielleicht das Antlitz eines Leichnams war: ein wenig Schaum trat aus den Lippen hervor, es schien, als atmete er nicht mehr.
    Sie rief ihn: «Fosca! Fosca!»
    Er schlug die Augen halb auf. Dann atmete er tief ein: «Haben Sie keine Angst.»
    Sanft entfernte er ihre Hand und schob das blutige Handtuch fort. Das Blut hatte aufgehört zu fließen, die Ränder der Schnittwunde waren näher aneinandergerückt. Über dem blutgeröteten Hemd sah man an seinem Hals nur eine rosige Narbe.
    «Das ist doch nicht möglich», sagte sie.
    Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und fing zu weinen an.
    «Regine!» rief er. «Regine! Glauben Sie mir jetzt?»
    Er war aufgestanden, hatte sie in die Arme genommen, sie fühlte an ihrem Hals die klebrige Feuchtigkeit von seinem blutigen Hemd.
    «Ich glaube Ihnen.»
    Lange blieb sie unbeweglich an diesen so nahen und doch so geheimnisvollen Körper gepreßt, auf dem die Zeit keine Runen ließ. Dann hob sie die Augen zu ihm, sie sah ihn mit Schaudern und voller Hoffnung an.
    «Retten Sie mich», sagte sie. «Retten Sie mich vor dem Tode.»
    «Ach!» rief er leidenschaftlich aus. «Retten Sie vielmehr mich!» Er nahm Regines Antlitz zwischen seine Hände; er blickte sie so abgründig an, als wolle er ihr die Seele aus ihrem Leibe reißen: «Retten Sie mich vor der Nacht und vor der Gleichgültigkeit», sagte er. «Machen Sie, daß ich Sie liebe und daß Sie existieren vor allen anderen Frauen. Dann erst wird die Welt wieder Gestalt bekommen. Es wird wieder Tränen und Lächeln geben, wieder Erwartung und Furcht. Ich werde wieder ein Lebender sein.»
    «Sie sind ein Lebender», sagte sie und bot ihm ihren Mund.
     
    Foscas Hand ruhte auf dem gewachsten Tisch, und Regine betrachtete sie. Diese Hand, die mich gestreichelt hat, wie alt mag sie jetzt wohl sein? Vielleicht würde eine Sekunde später das Fleisch verwest herunterfallen und weiße Knochen entblößen   … Sie hob den Kopf empor: Hat Roger recht? Werde ich verrückt? Mittägliche Helle durchflutete die ruhige Bar, in der geheimnislose Menschen in Ledersesseln sitzend den Apéritif zu sich nahmen. Dies war das Paris des 20.   Jahrhunderts. Regine heftete ihren Blick wieder auf die Hand. Die Finger waren kräftig und schlank, die Nägel etwas zu lang. Seine Nägel wachsen, und seine Haare auch. Regines Blick stieg zu seinem Hals empor, der ganz glatt aussah und keine Narben zeigte. Es muß doch dafür eine Erklärung geben, dachte sie. Vielleicht ist er wirklich ein Fakir und kennt Geheimnisse   … Sie führte ein Glas mit Sprudel an ihre Lippen. Sie fühlte einen Druck im Kopf, ein pelzigesGefühl im Mund. Ich brauche eine kalte Dusche und eine Siesta hinterher. Dann werde ich klarer sehen.
    «Ich gehe jetzt heim», sagte sie.
    «Ja, so!» sagte er. «Natürlich.» Zornig fügte er hinzu: «Auf den Tag folgt die Nacht und auf die Nacht der Tag. Ausnahmen werden nicht gemacht.»
    Sie schwiegen beide. Sie nahm ihre Tasche, und er sagte nichts; sie ergriff ihre Handschuhe, er sagte noch immer nichts. Schließlich fragte sie:
    «Wann sehen wir uns wieder?»
    «Sehen wir uns wieder?» fragte er.
    Er ließ einen abwesenden Blick über die platinblonden Haare einer jungen Person gleiten. Plötzlich dachte sie: Von einer Minute zur anderen kann er wieder das Bewußtsein verlieren, und es schien ihr, als fiele sie selber in einer Art von Schwindel durch immer dichtere Nebelmassen in einen Abgrund hinab; sobald sie die Tiefe erreicht hätte, würde sie wiederum nur ein Grashalm sein, den der Winter für immer begrub.
    «Sie werden mich doch nicht verlassen», rief sie angstvoll aus.
    «Ich?
Sie
gehen doch   …»
    «Ich komme wieder», sagte sie. «Seien Sie nicht böse. Ich muß Roger und Annie beruhigen, sie machen sich bestimmt Sorgen um mich.» Sie legte ihre Hand auf Foscas Rechte: «Ich würde gern noch bleiben.»
    «So bleiben Sie doch», sagte er.
    Sie warf die Handschuhe auf den Tisch und warf die Tasche hin. Sie hatte das Bedürfnis, diesen Blick auf sich zu fühlen. Wagen Sie, an mich zu glauben   … wagen Sie es doch. Was glaubte sie eigentlich? Er sah nicht aus wie ein Scharlatan oder ein Geistesgestörter.
    «Warum sehen Sie mich so an?» fragte er. «Haben Sie Angst vor mir?»
    «Nein», sagte sie.
    «Sehe ich anders aus als die anderen

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