Alle Menschen sind sterblich
Roger.
«Es macht doch kein Aufsehen, wenn man singt.» Schallend fing sie an: «Die Töchter von Camaret wollen Jungfrauen sein …»
Ihre Stimme gehorchte ihr nicht so, wie sie wollte, sie hustete und fing wieder an: «Die Töchter von Camaret wollen Jungfrauen sein … Doch hat man sie im Bett …»
Sie bekam wieder den Schluckauf und fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht entwich.
«Entschuldigen Sie, bitte», teilte sie förmlich mit. «Ich möchte mich erst übergeben.»
Etwas unsicher ging sie zur anderen Seite des Saales. Alle sahen ihr nach, die Freunde, die Unbekannten, die Kellner, der Ober, aber sie schritt so leicht durch ihre Blicke hindurch wie ein Geist durch die Wände. Im Spiegel über dem Waschbecken sah sie ihr eigenes Bild; sie war blaß, mit scharfen Nasenlöchern und Puderflecken auf dem Gesicht.
«Das ist alles, was von Rosalinde geblieben ist.»
Sie beugte sich über die Klosettschüssel und übergab sich.
«Und nun?» sagte sie zu sich selbst.
Sie zog an der Spülung, wischte sich den Mund ab und ließ sich auf den Rand des Sitzes nieder. Der Boden war mit Fliesen belegt, die Wände wirkten kahl; es konnte ein Operationssaal sein, eine Zelle im Kloster oder im Narrenhaus. Sie wollte nicht wieder hinauf zu den anderen; sie konnten ihr gar nichts bieten, nicht einmal Zerstreuung; lieber bliebe sie hier für die Nacht, für das ganze Leben eingemauert in Weiße und in Einsamkeit, eingemauert, begraben, in Vergessenheit. Sie stand auf. Nicht einen Augenblick hatte sie aufgehört, an ihn zu denken, an ihn, der nicht Beifall klatschte und der sie verzehrte mit seinem alterslosen Blick.
«Das ist meine Chance, meine einzige Chance.»
Sie ließ sich ihren Mantel an der Garderobe geben und rief ihnen nur im Vorbeigehen zu: «Ich gehe an die Luft.»
Sie ging und winkte ein Taxi herbei.
«Hotel de la Havane
. Rue Saint-André-des-Arts.»
Sie schloß die Augen, und ein paar Sekunden lang schwieg wirklich alles in ihr, doch dann dachte sie müde: Es ist nur eine Komödie, ich glaube nicht daran. Sie zögerte. Sie konnte immer noch an die Scheibe klopfen und sich in «Tausend und eine Nacht» zurückfahren lassen. Und dann? Glauben oder nicht glauben? Was hatten denn die Worte überhaupt für einen Sinn? Sie brauchte ihn.
Sie schritt durch den unansehnlichen Hof und stieg die Treppe hinauf. Sie klopfte, doch niemand meldete sich. Sie setzte sich auf eine der kalten Stufen. Wo war er in diesem Augenblick? Welche Eindrücke ließen sich auf seiner Netzhaut nieder, um nie wieder zu verbleichen? Sie legte den Kopf in die Hände. An ihn glauben können. Glauben, daß die Rosalinde, die ich geschaffen habe, unsterblich ist und unsterblich in seinem Herzen bleiben wird.
«Regine!» sagte er.
«Ich habe auf Sie gewartet», sagte sie. «Ich habe lange auf Sie gewartet.» Sie stand auf. «Nehmen Sie mich mit.»
«Wohin?»
«Ganz gleich; aber diese Nacht will ich mit Ihnen verbringen.»
Er öffnete seine Zimmertür: «Kommen Sie herein.»
Sie trat ein. Ja. Warum denn nicht hier, in diesen zerschlissenen Wänden? Unter seinem Blick war sie dem Raum enthoben, enthoben aus der Zeit; die Umgebung hatte keine Bedeutung mehr.
«Woher kommen Sie?» fragte sie.
«Ich bin durch die Nacht gegangen», sagte er. Er berührte Regines Schulter. «Und Sie warteten auf mich! Sie sind da.»
Sie lachte leise auf.
«Sie haben nicht geklatscht», sagte sie.
«Ich hätte weinen mögen», sagte er. «Ein anderes Mal vielleicht werde ich weinen können.»
«Fosca, antworten Sie mir. Heute nacht dürfen Sie mich nicht belügen. Ist alles wirklich wahr?»
«Ich habe Sie noch niemals belogen», sagte er.
«Sind Sie sicher, daß es nicht nur eine Wahnvorstellung ist?»
«Sehe ich so aus, als wenn ich nicht richtig wäre?» Er legte seine Hände auf Regines Schultern. «Wagen Sie, mir zu glauben. Wagen Sie es doch.»
«Können Sie mir nicht einen Beweis geben?»
«Das kann ich.»
Er ging an das Waschbecken, und als er wiederkam, hielt er sein Rasiermesser in der Hand.
«Haben Sie keine Angst», sagte er.
Bevor sie eine Bewegung machen konnte, stürzte ein Strom von Blut aus Foscas Kehle hervor.
«Fosca!» schrie sie auf.
Er hatte geschwankt; jetzt lag er auf dem Bett mit geschlossenen Augen, wie ein Toter so bleich, und das Blut rann ihm aus der offenen Wunde am Hals. Es tropfte auf die Dielen, alles Blut seines Körpers schien aus dem tiefen Schnitt zu entweichen, dessen Ränder klafften.
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