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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gehabt? Bin ich denn so feige? Er geht durch die Straßen, ganz bescheiden mit seinem Filzhut und Gabardinemantel und denkt: Ich bin unsterblich. Die Welt ist sein, und die Zeit ist sein, und ich bin nur ein Insekt: Mit der Fingerspitze strich sie über die Narzissen, die auf dem Tisch standen. Wenn ich nun auch glaubte, daß ich unsterblich bin? Der Duft der Narzissen stirbt nicht, und auch dies Fieber nicht, das meine Lippen schwellt. Ich bin unsterblich. Sie zerdrückte die Narzissen zwischen ihren Händen. Es hatte keinen Zweck. Der Tod war in ihr, und sie wußte es und hatte ihn bereitwillig in sich aufgenommen. Noch zehn Jahre schön sein, Phaedra und Cleopatra spielen, im Herzen der sterblichen Menschen ein blasses Erinnern lassen, das allmählich zu Staub zerfiele, dieser bescheidene Ehrgeiz hatte ihr bisher genügt. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haar, und die schweren Flechten fielen ihr über die Schultern herab. Eines Tages werde ich alt sein, eines Tages tot, eines Tages vergessen. Und während ich das denke, gibt es einen Menschen, der denkt: Ich bin immer da.
     
    «Es war ein Triumph!» sagte Dulac.
    «Es gefällt mir besonders», äußerte Frenaud, «daß Ihre Rosalinde auch in Männerkleidern soviel Koketterie und schillernde Anmut bewahrt.»
    «Sprechen wir nicht mehr von Rosalinde», sagte Regine, «sie ist tot.»
    Der Vorhang war gefallen, Rosalinde war tot, sie würde jeden Abend sterben, und ein Tag würde kommen, an dem sie nicht wieder zum Leben erwachen würde. Regine griffzum Sektglas und leerte es in einem Zug; ihre Hand zitterte; seit sie die Bühne verlassen hatte, war sie nicht einen Augenblick aus dem Zittern gekommen.
    «Ich möchte mich amüsieren», sagte sie in kläglichem Ton.
    «Wir können ja zusammen tanzen», sagte Annie.
    «Nein. Ich will mit Sylvia tanzen.»
    Sylvia warf einen Blick auf das gesittete Publikum, das rings an den Tischen saß: «Fürchten Sie nicht, daß wir furchtbar auffallen werden?»
    «Und wenn man Komödie spielt, fällt man da nicht auf?» gab Regine zurück.
    Sie legte den Arm um Sylvia; sie stand nicht sehr fest auf den Füßen, aber sie hatte die Gabe, immer noch tanzen zu können, auch wenn sie nicht mehr gehen konnte; das Orchester spielte einen Rumba, und sie tanzte nach Art der Neger mit unanständigen Gesten. Sylvia schien sehr verlegen, sie trat vis-à-vis von Regine von einem Fuß auf den andern und wußte nicht, wo sie mit ihrem Körper bleiben sollte, lächelte aber doch höflich und machte gute Miene. Alle hatten dies selbe Lächeln auf ihren Gesichtern. Heute abend konnte sie tun, was sie wollte, und alle würden es gutheißen. Jäh hielt sie inne mit Tanzen.
    «Du wirst niemals tanzen lernen», sagte sie. «Du bist zu vernünftig.»
    Sie sank in ihren Sessel zurück.
    «Gib mir eine Zigarre», sagte sie zu Roger.
    «Es wird dir übel werden», wandte Roger ein.
    «Gut. Dann übergebe ich mich. Das ist mal was anderes.»
    Roger reichte ihr eine Zigarre, sie zündete sie sorgfältig an und nahm einen ersten Zug; ein beißender Geschmack erfüllte ihren Mund; das war wenigstens etwas, was gegenwärtig, intensiv, was wirklich vorhanden war. Alles andere schien so fern: die Musik, die Stimmen, das Lachen, die bekanntenund die unbekannten Gesichter, deren zerflatternde Bilder die Spiegel des Restaurants unendlich oft wiederholten.
    «Du bist sicher todmüde», sagte Merlin.
    «Ich habe vor allem Durst.»
    Sie stürzte noch ein Glas herunter. Trinken, immer nur trinken. Und dennoch war es in ihrem Herzen kalt. Eben noch brannte sie: sie waren aufgestanden, sie riefen nach ihr und klatschten in die Hände. Jetzt schliefen oder schwatzten sie, und sie selber war kalt. Schläft er jetzt wohl auch? Er hatte nicht geklatscht; er saß da und sah sie an. Aus dem Grunde der Ewigkeit hat er mich angesehen, und Rosalinde ist dadurch unsterblich geworden.
    «Wenn ich es glaubte», sagte sie. «Wenn ich es glauben könnte?» Sie bekam den Schlucken, und ihr Gaumen war pelzig. «Warum singt keiner?» fragte sie. «Man singt, wenn man lustig ist. Ihr seid doch lustig? Wie?»
    «Wir sind glücklich über Ihren Triumph», sagte Sanier mit seinem warmen und dabei ernsten Blick.
    «Also müßt ihr singen.»
    Sanier lächelte und stimmte halblaut einen amerikanischen Schlager an.
    «Lauter», sagte sie.
    Er erhob seine Stimme nicht.
    Sie legte ihm die Hand auf den Mund und rief zornig aus: «Schweig. Ich werde singen.»
    «Mach doch kein Aufsehen», riet ihr

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