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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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weißen Zähne blitzten mit einem grausamen Schimmer. Wie sollte ich es ihr erklären? Böses tun amüsierte mich nicht mehr; aber ich war nicht besser geworden: weder gut noch schlecht, weder geizig noch generös. Sie lächelte mich an.
    «Es gefällt mir hier. Ihnen auch?»
    Am anderen Ende des Saals saß eine junge Frau, die sang und Laute spielte; das Publikum sang im Chor den Refrain. Im allgemeinen verabscheute ich dies Lärmen vieler Menschen, ihr Gelächter, das Stimmengewirr. Aber Marianne lächelte, und ich konnte nicht hassen, was auf ihren Lippen dies Lächeln erstehen ließ.
    «Ja, mir gefällt es auch.»
    «Aber Sie essen ja nicht», sagte sie vorwurfsvoll. «Sie arbeiten eben zuviel; das nimmt Ihnen den Appetit.»
    «Aber keineswegs.»
    Ich schob ein Stück Pastete auf meinen Teller. Rings um mich aßen und tranken sie und hatten neben sich Frauen, die ihnen zulächelten. Auch ich aß und trank, und eine Frau lächelte mich an; eine Flut von Wärme stieg mir zum Herzen auf. Ich hatte beinahe das Gefühl, einer von ihnen zu sein.
    «Die Frau hat eine hübsche Stimme», bemerkte Marianne.
    Die Lautenspielerin war jetzt näher an unseren Tisch gekommen; sie sang und blickte dabei vergnügt zu Marianne hin. Auf ein Zeichen von ihr fing alles an mitzusingen. Mariannes helle Stimme mischte sich unter die anderen; sie beugte sich zu mir: «Sie müssen auch mitsingen.»
    Etwas wie Scham würgte mich im Hals; noch niemals hatte ich mit anderen Menschen gesungen! Ich sah mir die Leute an. Sie lächelten ihren Frauen zu, sie sangen und verspürten am Herzen ein feuriges Gefühl; auch mein Herz fing an, in Feuer zu geraten. Wenn diese Flamme brannte, versanken das Vergangene und das Zukünftige: ob man morgen, in hundert Jahren oder nie sterben würde, machte keinen Unterschied mehr. Immer dasselbe Feuer. Ich dachte: Ich bin ein lebendiger Mensch, ich bin einer von ihnen.
    Ich fing an mitzusingen.
     
    Es ist nicht wahr, dachte ich: ich bin keiner der ihrigen   … Halb verborgen hinter einer Säule sah ich zu, wie sie tanzten. Verdier berührte Mariannes Hand, er streifte sie manchmal, er atmete ihren Duft; sie trug ein weites blaues Abendkleid, das ihre Schultern frei ließ und den Ansatz der Brüste; ich hätte diese zerbrechliche Gestalt so gern umarmen mögen, doch ich fühlte mich wie gelähmt: Dein Leib ist von fremder Art. Meine Hände und meine Lippen waren wie von Granit, ich durfte sie nicht berühren; ich konnte nicht lachen wie andere, mit dieser Begehrlichkeit, die so selbstsicher war; jene waren von ihrer Art, und ich hatte nichts zu suchen unter ihnen. Ich näherte mich der Tür; als ich die Schwelle überschreiten wollte, hielt mich Mariannes Stimme zurück: «Wohin gehen Sie?»
    «Ich kehre nach Crécy zurück», sagte ich.
    «Ohne sich von mir zu verabschieden?»
    «Ich wollte Sie nicht stören.»
    Sie blickte mich verwundert an: «Aber was ist denn?» sagte sie. «Warum verschwinden Sie so schnell?»
    «Sie wissen, ich bin kein Gesellschaftsmensch.»
    «Ich hätte so gern mit Ihnen fünf Minuten gesprochen», sagte sie.
    «Wenn Sie wollen.»
    Wir gingen durch das mit steinernen Fliesen belegte Treppenhaus, dann öffnete sie die Tür zur Bibliothek; der große Raum lag verlassen da; der Klang der Geigen drang gedämpft durch die mit Büchern bedeckten Wände.
    «Ich wollte Ihnen nur sagen, daß wir unendlich bedauern würden, wenn Sie wirklich in unserem Wohlfahrtskomitee nicht Mitglied werden wollten.» Dann fügte sie hinzu: «Warum lehnen Sie ab?»
    «Ich kann es einfach nicht», sagte ich.
    «Aber warum?»
    «Es würden mir Irrtümer unterlaufen. Ich würde die Greise verbrennen lassen, anstatt Spitäler für sie zu bauen, ich würde die Narren in Freiheit setzen und Ihre Philosophen vielleicht in Käfige sperren.»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich verstehe nicht», sagte sie. «Wenn es uns gelungen ist, diese Universität wirklich einzurichten, so danken wir es Ihnen; Ihre Einweihungsrede war ein Meisterwerk. Und dann gibt es Augenblicke, wo Sie überhaupt an den Nutzen unserer Bemühungen nicht zu glauben scheinen.»
    Ich bewahrte Schweigen, und etwas ungeduldig fragte sie: «Was denken Sie nun wirklich?»
    «In Wirklichkeit», sagte ich, «glaube ich nicht an den Fortschritt.»
    «Und doch ist es klar, daß wir der Wahrheit und sogar der Gerechtigkeit näher gekommen sind als die früheren Zeiten.»
    «Sind Sie sicher, daß Ihre Wahrheit und Ihre Gerechtigkeit mehr wert sind als die der

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