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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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früheren Jahrhunderte?»
    «Sie werden doch zugeben, daß das Wissen der Unwissenheit vorzuziehen ist, die Duldsamkeit dem Fanatismus, die Freiheit dem Sklaventum?»
    Sie sprach mit einem naiven Feuer, das meine Ungeduld reizte; sie sprach die Sprache der Gruppe, der sie angehörte. Ich sagte: «Ein Mann hat mir eines Tages gesagt: ‹Es gibt nur ein einziges Gut, und das besteht darin, daß man nach seinem Gewissen handelt.› Ich glaube, daß er recht hatte und daß nichts, was wir für die anderen zu tun glauben, zu irgend etwas dient.»
    «Aha!» rief sie triumphierend aus. «Und wenn mir nun mein Gewissen befiehlt, für Toleranz, Vernunft und Freiheit einzutreten?»
    Ich zuckte die Achseln. «Dann tun Sie es nur», sagte ich. «Mir befiehlt mein Gewissen nichts.»
    «Warum haben Sie uns dann geholfen?» fragte sie.
    Sie blickte mich mit so aufrichtiger Besorgnis an, daß ich wieder einmal den verzweifelten Wunsch empfand, mich ihr rückhaltlos anzuvertrauen; nur auf diese Weise konnte ich wirklich lebendig werden, wirklich ich selber sein; wir könnten ohne Lüge miteinander sprechen. Aber ich sah im Geiste Carliers gequältes Antlitz vor mir.
    «Um die Zeit totzuschlagen», sagte ich.
    «Das ist nicht wahr!» rief sie.
    In ihren Augen lag Dankbarkeit, Zärtlichkeit und Glauben; wie gerne wäre ich der gewesen, den sie in mir sah. Aber meine Anwesenheit war etwas wie Hochstapelei: mit jedem Wort, jedem Schweigen, jeder Bewegung, ja jeder Miene sogar log ich sie fortwährend an. Ich durfte ihr nicht die Wahrheit sagen und schämte mich, sie zu täuschen; es blieb mir nichts als Flucht. «Doch, es ist wahr. Und jetzt gehe ich wieder zu meinen Retorten.»
    Mühsam lächelte sie: «Das ist ein plötzlicher Aufbruch.» Sie legte die Hand auf die Türklinke und fragte mich: «Wann sehen wir uns wieder?»
    Wir standen beide schweigend da; sie lehnte an der Tür, ganz dicht vor mir, und ihre nackten Schultern schimmerten im Halbdunkel; ich spürte den Duft ihres Haares. Ihr Blick ermunterte mich: ein Blick nur, eine Bewegung! Ich dachte: alles wird Lüge sein, ihr Glück, ihr Leben, unsere Liebe selbst, mit jedem meiner Küsse werde ich sie verraten. Aber ich sagte nur: «Mir scheint, Sie brauchen mich nicht.»
    Auf einmal entspannte sich ihr Gesicht: «Was ist in Sie gefahren, Fosca? Sind wir denn nicht Freunde?»
    «Sie haben so viele Freunde.»
    Sie lachte wie befreit: «Sind Sie eifersüchtig?»
    «Warum nicht?»
    Wieder log ich sie an; es handelte sich hier nicht um menschliche Eifersucht.
    «Das ist dumm», sagte sie.
    «Ich bin eben nicht für das Leben in der Gesellschaft geschaffen», brachte ich mürrisch hervor.
    «Sie sind nicht dafür geschaffen, so allein zu leben.»
    Allein. Ich spürte den Duft des Gartens rings um den wimmelnden Ameisenhaufen her und hatte dann wiederum diesen Todesgeschmack im Mund; der Himmel war leer und kahl, die Ebene weit und öde; auf einmal versagte mein Mut. Und die Worte, die ich nicht sagen wollte, kamen mir auf die Lippen: «Kommen Sie mit mir.»
    «Mit Ihnen kommen?» sagte sie. «Und für wie lange denn?»
    Ich breitete die Arme aus; alles würde Lüge sein, selbst das überquellende Verlangen meines Herzens war nichts anderes als Lüge, und der Druck meiner Arme, in die ich jetzt ihre sterbliche Schönheit schloß; aber die Kraft zu kämpfenwar mir abhanden gekommen; ich drückte sie an mich wie ein Mann eine Frau und sagte: «Fürs ganze Leben. Können Sie das ganze Leben an meiner Seite verbringen?»
    «Die ganze Ewigkeit», sagte sie.
    Als ich am Morgen nach Crécy zurückkehrte, klopfte ich an Bompards Tür; er war gerade dabei, ein Stück mit Butter bestrichenes Brot in eine Tasse Milchkaffee zu tauchen. Er hatte schon ganz die Art eines alten Mannes. Ich setzte mich ihm gegenüber.
    «Bompard», sagte ich, «du wirst über mich staunen.»
    «Das wollen wir erst mal sehen», meinte er gleichgültig.
    «Ich habe mich entschlossen, etwas für dich zu tun.»
    «Wirklich?» Er hob nicht einmal den Kopf.
    «Ja. Ich mache mir ein Gewissen daraus, daß ich dich hier so lange festgehalten habe, ohne dir eine Chance zu geben. Nun erfahre ich, daß der Herzog von Frétigny, der in einer Sondermission an den Hof der Kaiserin von Rußland geht, einen Sekretär sucht: ein geschickter Intrigant kann es da weit bringen. Ich werde dich warm empfehlen und dir ein hübsches Sümmchen geben, damit du in St.   Petersburg entsprechend auftreten kannst.»
    «Aha!» meinte Bompard. «Sie

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