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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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neu, so erstmalig war, als hätte die Vergangenheit gar nicht existiert; in diesem Augenblick würde ich Marianne eine Antwort geben, die in keinem der vergessenen Augenblicke meines Lebens aufgezeichnet war, und ich war es, mein wirkliches Ich, das sie auswählen würde; es lag bei mir, Marianne zu enttäuschen oder sie hoch zu erfreuen.
    «Muß ich mich gleich entscheiden?»
    «Wie Sie wollen», antwortete sie, sichtlich etwas kühl.
    Ich blickte sie an: enttäuscht oder hocherfreut würde sie durch das Parktor gehen, mir aber bliebe nichts übrig, als mich wieder neben dem Ameisenhaufen auszustrecken   …
    «Wann werden Sie mir Ihre Antwort geben?» fragte sie.
    Ich zögerte; am liebsten hätte ich gesagt: Morgen, um ganz sicher zu sein, daß ich sie wiedersähe; aber ich sagte es nicht; in ihrer Gegenwart sprach und handelte ich, war ich wirklich ich; ich hätte mich geschämt, die Situation für meine Wünsche auszunutzen.
    «Gleich», sagte ich, «warten Sie nur bitte einen Augenblick.»
    Als ich zu Marianne zurückkam, hielt ich einen Wechsel in der Hand; ich überreichte ihn ihr, und sie errötete:
    «Aber das ist ja ein Vermögen!» rief sie aus.
    «Nicht mein ganzes Vermögen.»
    «Aber ein großer Teil   …»
    «Haben Sie mir nicht gesagt, Sie brauchten sehr viel Geld?»
    Sie blickte auf das Stück Papier und dann in mein Gesicht: «Ich verstehe nicht», sagte sie.
    «Sie können nicht alles verstehen.»
    Wie erstarrt stand sie mir gegenüber. Schließlich sagte ich: «Es ist spät. Sie sollten aufbrechen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.»
    «Ich habe noch eine Bitte», brachte sie langsam hervor.
    «Sie sind nicht leicht zufriedengestellt.»
    «Weder meine Freunde noch ich verstehen viel von Geschäften. Offenbar sind Sie ein geschickter Finanzmann. Helfen Sie mir, unsere Universität auf die Beine zu bringen.»
    «Bitten Sie mich in meinem oder Ihrem Interesse darum?»
    Sie schien einen Augenblick nicht zu wissen, was sie sagen sollte. «Das eine und das andere trifft zu.»
    «Das eine mehr als das andere?»
    Sie zögerte; aber sie liebte das Leben so sehr, daß sie der Wahrheit vertraute.
    «Ich denke mir, daß vieles für Sie anders sein würde, wenn Sie sich entschlössen, aus sich selbst herauszugehen   …»
    «Warum nehmen Sie soviel Interesse an mir?» fragte ich.
    «Können Sie sich nicht vorstellen, daß man sich für Sie interessiert?»
    «Ich werde nachdenken», sagte ich. «Und Ihnen meine Antwort selber bringen.»
    «Rue des Ciseaux, Nummer 12», sagte sie. «Da wohne ich zur Zeit.» Sie reichte mir die Hand. «Ich danke Ihnen.»
    «Rue des Ciseaux, Nummer 12», wiederholte ich. «Ich habe Ihnen zu danken.»
    Sie stieg in den Wagen, und ich hörte das Geräusch der Räder, die sich auf der Allee entfernten. Mit beiden Armen umschlang ich den großen Lindenbaum, ich preßte die Wange an die filzige Rinde und dachte in einer Mischung von Verlangen und Angst: Werde ich wieder lebendig werden?
     
    Es klopfte an der Tür, und Marianne trat ein; sie kam bis an meinen Schreibtisch heran.
    «Immer bei der Arbeit?» sagte sie.
    Ich lächelte: «Wie Sie sehen.»
    «Ich bin sicher, Sie haben sich den ganzen Tag nicht von hier fortgerührt.»
    «Das stimmt.»
    «Haben Sie zu Mittag gegessen?»
    Ich zögerte mit der Antwort; lebhaft rief sie aus: «Natürlich wieder nicht; Sie machen sich ja krank.»
    Sie sah mich mit besorgter Teilnahme an, und wieder schämte ich mich: nicht essen, nicht schlafen, Vermögen, Zeit hergeben bedeutete für sie nicht dasselbe wie für mich; ich log ihr etwas vor.
    «Wenn ich nicht gekommen wäre, würden Sie die ganze Nacht hiergeblieben sein   …»
    «Wenn ich nicht arbeite, langweile ich mich», sagte ich.
    Sie lachte hell: «Entschuldigen Sie sich nicht.» Mit entschiedener Hand schob sie die vor mir ausgebreiteten Papiere auf die Seite. «Genug. Jetzt gehen wir essen.»
    Mit Bedauern schaute ich mich nach dem von Aktenstücken bedeckten Tisch, den von schweren Vorhängen geschützten Fenstern, den undurchlässigen Wänden um; mein Pariser Haus war die Zentrale für die Ausarbeitung der Pläne der künftigen Universität geworden, und ich fühlte mich wohl in diesem Arbeitsraum, mit genau umrissenen Aufgaben vor mir, die erledigt werden mußten; solange ich hier war, kam die Frage nicht auf, wohin man gehen sollte; es gab überhaupt keine Frage   …
    «Wo soll ich essen gehen?»
    «Es gibt viele Möglichkeiten   …»
    Plötzlich fiel mir ein: «Kommen

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