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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Sie mit mir.»
    Sie zögerte einen Augenblick: «Sophie wartet auf mich.»
    «Lassen Sie sie warten.»
    Sie sah mich an; ein Lächeln schwebte um ihre Lippen; mit einem Anflug von Koketterie fragte sie mich dann: «Würde es Ihnen wirklich Vergnügen machen?»
    Ich zuckte die Achseln; wie sollte ich ihr erklären, daß ich ihre Anwesenheit nur wünschte, um die Zeit totzuschlagen, daß ich sie nötig hatte, um mich lebendig zu fühlen; Worte würden mich verraten haben; ich würde davon zu viele oder zu wenige brauchen; ich wollte gern aufrichtig mit ihr sein, aber Aufrichtigkeit war mir nicht erlaubt. So sagte ich nur kurz: «Gewiß.»
    Sie schien unentschlossen, entschied sich dann aber doch: «Gut, dann führen Sie mich in das neue Restaurant, von dem man jetzt so viel spricht; offenbar ißt man dort wundervoll.»
    «Meinen Sie
Dagorneau?»
    «Ja, das meine ich.»
    Ihre Augen leuchteten; sie wußte immer, wohin gehen, was tun; sie hatte immer Wünsche oder eine Neugier zu befriedigen; wenn ich ihr Leben teilen könnte, würde ich nicht mehr wegen des meinen in Verlegenheit sein. Wir gingen die Treppe hinunter, und ich fragte sie: «Gehen wir zu Fuß?»
    «Natürlich», sagte sie. «Der Mond scheint doch so schön.»
    «Ach! Lieben Sie den Mondschein?» fragte ich gereizt.
    «Sie etwa nicht?»
    «Ich hasse den Mond.»
    Sie lachte: «Sie haben immer so übertriebene Gefühle.»
    «Wenn wir alle tot sind, wird er immer noch am Himmel stehen und grinsen.»
    «Ich bin nicht neidisch auf ihn», gab Marianne zurück. «Ich fürchte mich nicht vor dem Tod.»
    «Wirklich? Wenn Ihnen mitgeteilt würde, Sie müßten gleich jetzt sterben, hätten Sie da keine Angst?»
    «Oh! Ich möchte sterben, wenn meine Stunde gekommen ist.»
    Sie ging rasch dahin und nahm dabei mit Augen, Ohren, ja allen Poren ihrer jungen, frischen Haut die Süßigkeit dieser Nacht in sich auf.
    «Wie Sie das Leben lieben!» sagte ich.
    «Ja, ich liebe es.»
    «Ist es schon einmal vorgekommen, daß Sie sich unglücklich fühlten?»
    «Manchmal, ja. Aber auch das ist Leben.»
    «Ich möchte Ihnen eine Frage stellen», sagte ich.
    «Stellen Sie sie doch.»
    «Haben Sie jemals geliebt?»
    Sie gab sofort ihre Antwort: «Nein.»
    «Und dabei sind Sie doch eine leidenschaftliche Natur.»
    «Gerade deswegen», sagte sie. «Alle anderen Leute kommen mir lau und gleichgültig vor; so, als lebten sie nicht   …»
    Ich fühlte am Herzen einen Stich. «Ich lebe zum Beispiel nicht», sagte ich.
    «Das haben Sie mir schon einmal gesagt», meinte sie. «Aber es ist nicht wahr. Sie gehen bis zum Äußersten im Guten wie im Bösen; Sie ertragen das Mittelmäßige nicht; das bedeutet doch, daß Sie lebendig sind.» Sie schaute mich voll an. «Ihre Bosheit ist im Grunde nur eine Form der Rebellion.»
    «Sie kennen mich nicht», gab ich kurz zurück.
    Sie wurde rot, und wir gingen schweigend bis an die Tür des Restaurants. Eine Treppe führte hinab in einen großen, gewölbten Raum mit rauchgeschwärzten Balken; Kellner mit buntfarbigen Mützen eilten zwischen den Tischen hin und her, an denen sich lärmende Gruppen drängten. Wir setzten uns an ein kleines Tischchen im Hintergrund des Saals, und ich bestellte ein Nachtmahl. Als der Kellner die Vorspeisen und einen Krug Rosé vor unseren Platz gestellt hatte, fragte mich Marianne: «Warum sind Sie so gereizt, wenn ich etwas Gutes von Ihnen zu denken scheine?»
    «Weil ich mir dann wie ein Betrüger vorkomme.»
    «Ist es denn nicht wahr, daß Sie ohne zu feilschen unserer Unternehmung Ihre Zeit, Ihr Geld, Ihre Arbeit zur Verfügung stellen?»
    «Das kostet mich eben nichts», sagte ich.
    «Das ist ja gerade die wahre Großherzigkeit; Sie geben alles her, und niemals hat man den Eindruck, daß es Ihnen etwas ausmacht.»
    Ich füllte unsere Gläser mit Wein: «Haben Sie vergessen, was gewesen ist?»
    «Nein», sagte sie. «Aber Sie sind eben anders geworden.»
    «Man ändert sich niemals.»
    «Ach! Das glaube ich nicht. Wenn sich die Menschen nie änderten, wäre alle unsere Arbeit umsonst», rief sie lebhaft aus. Sie schaute zu mir auf. «Ich bin sicher, daß Sie jetzt nicht mehr ein Vergnügen darin finden könnten, einen Menschen zum Selbstmord zu treiben.»
    «Das ist wahr   …» sagte ich.
    «Sehen Sie!»
    Sie führte ein Stück Pastete zum Mund; sie aß ernsthaft und hatte dabei etwas von einem Tier; trotz der zurückhaltenden Grazie ihrer Bewegungen kam sie mir wie eine in eine Frau verwandelte Wölfin vor, ihre

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