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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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über dem Wasser neben der blauen Zeder auf.» Sie lächelte mir zu: «Da siehst du, was für ein guter Ratgeber du bist.»
    «Das kommt daher, daß ich mit deinen Augen zu sehen anfange», sagte ich.
    Mandelgrün oder Lindengrün? Sie hatte eigentlich recht, wenn man genau hinsah, gab es zweihundert verschiedene Töne von Grün, ebenso viele Nuancen von Blau, mehr als tausend Sorten Wiesenblumen und mehr als tausend Schmetterlingsarten; wenn die Sonne hinter den Hügeln unterging, hatten die Wolken allabendlich eine neue Farbe. Marianne selbst hatte so viele Gesichter, daß ich nicht hoffen durfte, sie jemals alle zu kennen.
    «Stehst du noch nicht auf?» fragte sie.
    «Ich sehe dir zu», sagte ich.
    «Was für ein Faulpelz du bist! Du hattest doch gesagt, heute würdest du deine Versuche mit den Diamanten wiederaufnehmen.»
    «Ja», sagte ich, «du hast recht.» Ich stand auf.
    Besorgt blickte sie mich an: «Mir scheint, wenn ich dich nicht antreibe, würdest du keinen Fuß mehr in dein Laboratorium setzen. Bist du denn gar nicht neugierig darauf, ob Kohle nun eigentlich wirklich ein reiner Körper ist oder nicht?»
    «Doch, das bin ich schon. Aber es eilt ja nicht», sagte ich.
    «Das sagst du jedesmal. Es ist wirklich komisch. Ich habe immer das Gefühl, ich habe zu wenig Zeit vor mir!»
    Sie bürstete ihre schönen kastanienbraunen Haare: sie würden weiß werden, sie würden ihr ausgehen, und die Haut würde einst in Fetzen von ihrem Schädel fallen. Zu wenig Zeit   … Wir würden uns 30   Jahre lang lieben, vielleicht sogar 40   Jahre, und dann würde man ihren Sarg in eine Grube senken, die jener gleichen würde, in der Caterina und Beatrice ruhten. Und ich würde dann wieder ein Schatten werden. Ich drückte sie heftig an mich.
    «Du hast recht», sagte ich. «Die Zeit ist zu kurz. Eine solche Liebe sollte niemals enden.»
    Sie blickte mich zärtlich an, etwas verwundert über diesen plötzlichen Ausbruch der Leidenschaft.
    «Nur mit uns wird sie enden, meinst du nicht auch?» sagte sie. Sie fuhr mir mit der Hand durchs Haar: «Du weißt», rief sie mit fröhlicher Miene aus, «wenn du vor mir stirbst, bringe ich mich um.»
    Ich drückte sie fester an mich: «Und auch ich», sagte ich, «würde dich nicht überleben.»
    Ich ließ sie wieder los. Plötzlich schien auch mir jede Minute kostbar; ich zog mich eilig an, ging eilig ins Laboratorium hinab. Ein Zeiger kreiste rund ums Zifferblatt der Uhr; zum erstenmal seit Jahrhunderten hätte ich ihn gern ganz zum Stillstand gebracht. Zu wenig Zeit, zu wenig Zeit   … Ehe 30   Jahre vergingen, ehe ein Jahr verging, ja vielleicht bis morgen schon mußte ich auf ihre Fragen eine Antwort wissen: was sie nicht heute erfuhr, würde sie niemals erfahren. Ich hatte den Diamanten in den Schmelztiegel gelegt: würde es mir endlich gelingen, ihn zum Brennen zu bringen? Er funkelte klar und in sich verschlossen, hinter seiner Durchsichtigkeit barg er sein hartes Geheimnis. Würde ich damit fertig werden? Würde ich mit der Luft, dem Wasser, allen jenenvertrauten und geheimnisvollen Dingen jemals zu Ende kommen, bevor es zu spät sein würde? Ich mußte wieder an den alten Speicher denken mit seinem Kräutergeruch. Das Geheimnis war da, in Pflanzen und Pulvern verborgen, und zornig fragte ich mich: Warum entdeckt man es heute nicht? Petrucchio hatte sein Leben über seinen Retorten verbracht, und er war gestorben, ohne es zu kennen; das Blut floß in unseren Adern, die Erde drehte sich, er hatte es nicht gewußt und würde es nie mehr erfahren. Ich hätte gern in der Zeit ein Stück zurückgehen und ihm Armevoll von jenem Wissen bringen mögen, das er so sehr ersehnte; doch es war unmöglich, die Tür war zugefallen   … Eines Tages würde sich auch eine andere Tür schließen; auch Marianne würde in der Vergangenheit versinken; und ich konnte keinen Sprung nach vorn machen, um am anderen Ende der Jahrhunderte für sie das Wissen zu holen, das sie so gerne haben wollte; man mußte einfach die Zeit ruhig dahingehen lassen, Minute für Minute ihren Ablauf ertragen, der so quälend langweilig war. Ich wendete meine Augen von dem Diamanten ab, dessen trügerische Durchsichtigkeit mich doch so sehr fesselte. Dreißig Jahre, ein Jahr, ein Tag, nichts als ein sterbliches Leben. Ihre Stunden waren gezählt. Und meine Stunden auch.
     
    Sophie saß in der Kaminecke und las
‹Pygmalion oder die belebte Statue›
, und die anderen Anwesenden unterhielten sich in dem kleinen,

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