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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Grunde näher als ich.
    «Was gibt es Neues in Paris?» fragte jetzt Sophie in versöhnlichem Ton.
    «Man hat mir bestätigt, daß jetzt in ganz Frankreich Lehrstühle für Experimentalphysik eingerichtet werden sollen», sagte Marianne.
    Prouvosts Gesicht belebte sich: «Das ist das schönste Resultat, das wir erreichen konnten», sagte er.
    «Ja, das ist ein großer Schritt vorwärts», sagte Marianne.
    «Wer weiß? Es geht vielleicht alles schneller, als wir zu hoffen wagten!»
    Ihre Augen blitzten; leise ging ich zur Tür. Ich konnte es nicht ertragen, sie von jener Zeit reden zu hören, wo selbst die Erinnerung an sie auf Erden erloschen sein würde. Vielleicht war es das, was mich am unüberwindlichsten von ihr trennte: sie lebten auf eine Zukunft hin, in der sich ihre Bestrebungen endlich erfüllen würden. Für mich aber war die Zukunft eine fremde, verhaßte Zeit: die Zeit, da Marianne tot sein würde und unser Leben verschlungen vom Schlund der Jahrhunderte, nutzlos und verloren; und jene Zeit warwiederum nur dazu bestimmt, nutzlos und verloren ebenfalls unterzugehen.
    Draußen war schönes, trockenes Frostwetter; Tausende von Sternen funkelten am Himmel: immer die gleichen Sterne. Ich blickte zu den regungslosen Himmelskörpern auf, die von entgegengesetzten Kräften angezogen wurden. Der Mond strebte nach der Erde, die Erde der Sonne zu: und die Sonne, wohin zog es sie? Zu welchem unbekannten Gestirn? War es nicht denkbar, daß man eines Tages fände, ihre Eigenbewegung höbe die der Erde auf und in Wirklichkeit stände unser Planet unbeweglich am Himmel? Wie konnte man das wissen? Würde es eines Tages dennoch offenbar sein? Und würde man auch erfahren, weshalb eigentlich die Körper sich gegenseitig anzogen? Die Anziehungskraft: ein bequemes Wort, mit dem man alles erklärte; war es mehr als ein Wort? Waren wir wirklich wissender heute als die Alchimisten von Carmona? Wir hatten gewisse Tatsachen entdeckt, die sie nicht kannten, und sie in eine gewisse Ordnung gebracht; aber waren wir auch nur einen Schritt weiter in das geheimnisvolle Innere der Dinge vorgedrungen? War das Wort Anziehungskraft klarer als das Wort Seele? Und wenn man die Ursache jener Phänomene, die entstanden, wenn man Bernstein oder Glas mit einem Tuch rieb, Elektrizität benannte, war man dann weitergekommen, als wenn man als Ursache aller Dinge Gott bezeichnete?
    Ich kehrte mit meinen Gedanken wieder zur Erde zurück. Am Ende der verschneiten Rasenfläche leuchteten die Fenster des Salons; dort, hinter dem Fenster, am Kamin, saßen sie und sprachen; sie sprachen von einer Zukunft, in der sie Staub und Asche sein würden. Um sie her war der Himmel zwar unendlich weit, die Ewigkeit ohne Grenzen; für sie aber würde eines Tages das Ende gekommen sein, und gerade darum lebten sie so leicht. In ihrer wohlverschlossenen Arche schifften sie durch die Nacht ohne Grauen davor: siesaßen ja alle zusammen darin. Langsam ging ich zum Haus zurück; für mich gab es keine Zuflucht, weder Zukunft noch Gegenwart. Trotz Mariannes Liebe war ich ausgeschlossen.
     
    «Schneckchen, Schneckchen, zeig dein Horn.» Henriette sang halblaut vor sich hin, während sie eines der Tiere, die sie in ihren Eimer gesammelt hatte, mit seiner breiten Sohle an einen Baumstamm drückte. Jacques lief rund um die Linde herum und versuchte dabei, das Verschen nachzusprechen; besorgt sah ihm Marianne zu: «Meinst du nicht, Sophie hat doch recht? Mir scheint, das rechte Bein ist ein bißchen verkrümmt.»
    «Zeige ihn doch dem Arzt.»
    «Die Ärzte haben nichts bemerkt   …»
    Ängstlich untersuchte sie die kleinen, kräftigen Beine; die beiden Kinder gediehen gut, sie aber machte sich Sorgen: würden sie auch recht schön, recht gesund, recht klug und recht glücklich sein? Ich schalt mich selber aus, daß ich ihre Beunruhigung nicht teilen konnte; ich hatte für die Kinder liebevolle Gefühle, weil Marianne sie in ihrem Leib getragen hatte; einmal hatte ich einen Sohn gehabt, einen Sohn, der mein war: aber mit 20   Jahren war er mir gestorben; nicht das kleinste Restchen seiner Gebeine würde noch in der Erde sein   …
    «Willst du mir nicht eine Schnecke abkaufen?» fragte Henriette.
    Ich streichelte ihr die Wangen; sie hatte meine breite Stirn, meine Nase, einen entschiedenen, etwas verschlossenen Gesichtsausdruck, sie war ihrer Mutter nicht ähnlich.
    «Die da», sagte Marianne, «hat eine gute Natur.» Sie versuchte in dem kleinen Gesicht zu lesen, als wollte

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