Alle Menschen sind sterblich
mit mandelgrüner Seide bespannten Salon eifrig über die beste Art, die Menschen zu regieren! Ich machte die Glastür nach draußen auf. Warum war Marianne noch nicht zu Hause? Es war Abend geworden: man sah nur noch die schwarzen Bäume auf dem weißen Schnee; aus dem Garten kam es kalt: es war ein rein mineralischer Duft, den ich zum erstenmal spürte. Liebst du den Schnee? Wenn ich mit ihr zusammen war, liebte ich den Schnee; siehätte da sein sollen, hier an meiner Seite. Ich trat wieder in den Salon zurück und blickte gereizt nach Sophie, die friedlich weiterlas. Ich mochte weder ihr ruhiges Gesicht noch ihre plötzlich ausbrechende Heiterkeit oder den derben, gesunden Menschenverstand, den sie zum besten gab: ich hatte für Mariannes Freunde nicht eben sehr viel übrig. Aber ich mußte sprechen.
«Marianne müßte jetzt längst zu Hause sein», sagte ich.
Sophie hob den Kopf vom Buch: «Sie ist sicher in Paris aufgehalten worden», sagte sie, als sei das eine erwiesene Sache.
«Oder es ist ihr etwas zugestoßen.»
Sie lachte und zeigte dabei ihre kräftigen weißen Zähne: «Was sind Sie für ein ängstlicher Mensch!»
Sie blickte wieder ins Buch. Sie taten immer so, als wüßten sie gar nichts davon, daß sie sterblich waren; und dabei genügte irgendein Schlag oder Stoß, ein Wagenrad, das sich löste, oder der Huf eines Pferdes, und ihre zerbrechlichen Glieder waren dahin, ihr Herz hörte auf zu schlagen, sie waren für immer tot. Am Herzen spürte ich das stechende Gefühl, das ich nun schon kannte: es wird einmal kommen; eines Tages werde ich sie tot vor mir liegen sehen. Die anderen konnten denken: ich werde als erster sterben, wir werden zusammen sterben; und das Gefühl der Abwesenheit würde einmal für sie wieder ein Ende haben … Ich eilte vor die Tür: ich hatte das durch den Schnee gedämpfte Rollen des Wagens gehört.
«Du hast mir solche Angst gemacht! Was ist denn passiert?»
Sie lächelte mich an und faßte meinen Arm. Ihre Taille war nicht sehr viel stärker geworden, aber ihre Züge wirkten angespannt, ihre Hautfarbe war nicht klar.
«Warum kommst du so spät nach Hause?»
«Es ist nichts», sagte sie. «Ich hatte ein leichtes Unwohlsein und habe abgewartet, bis es vorüber war.»
«Ein Unwohlsein!»
Zornig blickte ich auf ihre von blassen Ringen umgebenen Augen. Warum hatte ich ihr nachgegeben? Sie hatte ein Kind gewollt, und nun vollzog sich eine seltsame und gefährliche Alchimie in ihr. Ich brachte sie dazu, sich ans Feuer zu setzen.
«Das war das letzte Mal, daß du nach Paris fährst.»
«Was für eine Idee! Es geht mir ausgezeichnet!»
Sophie blickte forschend zu uns beiden herüber.
«Sie hat sich unwohl gefühlt», sagte ich.
«Das ist normal», sagte Sophie.
«Sterben ist auch normal», sagte ich.
Sie lächelte wie jemand, der es besser weiß: «Eine Schwangerschaft ist keine tödliche Krankheit.»
«Der Arzt sagt, vor April brauche ich mich nicht zu schonen», fügte Marianne hinzu.
Die beiden Männer waren näher gekommen.
«Was würde aus dem Museum werden», meinte sie wohlgelaunt, «wenn ich aufhören wollte, mich darum zu kümmern.»
«Bald muß es auch ohne dich gehen.»
«Bis zum April wird Verdier wieder völlig hergestellt sein», sagte Marianne.
Verdier sah rasch mich, dann Marianne an. «Wenn Sie müde sind», fiel er lebhaft ein, «kehre ich sofort nach Paris zurück; diese vier Tage auf dem Land haben mir schon sehr gutgetan.»
«Sie träumen wohl!» rief Marianne. «Sie müssen sich ganz gehörig ausruhen.»
Er sah tatsächlich nicht gut aus; er hatte ein bleiches Gesicht und Säcke unter den Augen.
«Ruht euch alle beide aus», bemerkte ich ungeduldig.
«Dann können wir die ganze Universität zumachen», meinte Verdier.
Sein ironischer Tonfall reizte mich: «Warum nicht?» sagte ich.
Marianne blickte mich vorwurfsvoll an, und ich fügte hinzu: «Keine Unternehmung verdient, daß man seine Gesundheit für sie ruiniert.»
«Ach!» rief Verdier aus. «Eine Gesundheit, die man schonen muß, ist eigentlich nichts mehr wert.»
Gereizt schaute ich sie beide an. Sie bildeten eine Front gegen mich; gemeinsam lehnten sie es ab, mit ihren Kräften hauszuhalten und ihre Tage zu zählen; jeder lehnte das für sich und für die anderen ab. In diesem gemeinsamen Starrsinn verschworen sie sich gegen mich, anstatt daß Marianne an meine Einsamkeit dachte! Trotz aller meiner Liebe war ich von anderer Art; jeder sterbliche Mensch stand ihr im
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