Alle Menschen sind sterblich
ihn fürchten?»
«Es ist vielleicht etwas zwischen euch beiden, wovon ich nichts weiß.»
«Ich habe dir ja gesagt: er ist ein Mensch, dem ich viel Böses zugefügt habe. Ich bereue es sehr.»
«Das ist alles?» fragte sie.
«Gewiß.» Ich schlang meinen Arm um sie: «Was beunruhigt dich? Habe ich denn jemals Geheimnisse vor dir gehabt?»
Sie tippte an meine Stirn: «Ach», sagte sie, «könnte ichdoch deine Gedanken lesen. Ich bin auf alles eifersüchtig, was hinter deiner Stirn vorgeht, ohne daß ich es weiß, und auf deine Vergangenheit, die ich so wenig kenne.»
«Ich habe sie dir doch erzählt.»
«Du hast sie mir erzählt, aber ich kenne sie nicht.»
Sie preßte sich dichter an mich.
«Ich war unglücklich», sagte ich. «Und ich lebte nicht. Du hast mir das Glück, das Leben gebracht …»
Ich zögerte. Die Worte drängten sich auf meine Lippen. Ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, sie nicht länger zu täuschen, ihr die Wahrheit über mich frei herauszusagen; ich hatte das Gefühl, daß ich dann, wenn sie mich noch liebte, obwohl ich unsterblich war, mit meiner Vergangenheit und meiner Zukunft ohne Hoffnung endlich erlöst sein würde.
«Ja? Und dann?» sagte sie.
Ihre Augen forschten in mir. Sie spürte, daß ich ihr noch mehr zu sagen hätte. Aber ich dachte an andere Augen zurück: an Carliers, Beatrices, an Antonios Augen. Ich hatte Angst davor, auch ihren Blick plötzlich sich wandeln zu sehen.
«Ich liebe dich», sagte ich. «Ist denn das nicht genug?»
Unter meinem Lächeln entspannte sich ihr besorgtes Gesicht; sie lächelte mich vertrauensvoll an: «Ja, das ist mir genug», sagte sie.
Ich drückte meine Lippen, die sie für so vergänglich hielt wie die ihrigen, sanft auf ihren Mund und dachte: Möchte der Himmel geben, daß sie nie meinen Verrat entdeckt!
Fünfzehn Jahre waren dahingegangen. Bompard hatte mehrere Male recht große Summen von mir verlangt; ich hatte sie ihm gegeben, doch in der letzten Zeit hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Wir lebten weiter glücklich. An jenem Abend hatte Marianne ein Kleid aus schwarzem Taftmit roten Streifen angelegt; vor ihrem Spiegel stehend, sah sie sich sorgfältig prüfend an; ich fand sie noch immer sehr schön. Auf einmal drehte sie sich um: «Wie jung du aussiehst!» sagte sie.
Ich hatte ganz allmählich meine Haare entfärbt, ich trug jetzt eine Brille und bemühte mich, den Gang und die Bewegungen eines älteren Menschen anzunehmen, aber mein Gesicht konnte ich nicht verbergen.
«Auch du siehst jung aus», sagte ich. Ich lächelte sie an. «Die Menschen, die man liebt, sieht man nicht älter werden.»
«Das ist wahr», sagte sie.
Sie beugte sich über einen Chrysanthemenstrauß und rupfte die welkgewordenen Blütenblätter ab.
«Es tut mir so leid, daß ich Henriette auf diesen Ball begleiten muß. Ein verlorener Abend. Unsere Abende sind mir so lieb …»
«Wir haben ja noch viele Abende vor uns», sagte ich.
«Aber dieser jedenfalls wird verloren sein», wiederholte sie seufzend.
Aus einem Fach des Toilettentischs nahm sie ein paar Ringe und streifte sie auf ihre Hand.
«Diesen Ring hatte Jacques so gern, erinnerst du dich noch?» sagte sie und zeigte mir dabei einen schweren Silberring mit einem blauen Stein.
«Ich erinnere mich», sagte ich.
Ich erinnerte mich nicht; an gar nichts erinnerte ich mich.
«Er war so traurig, als wir nach Paris gingen; er war so sensibel, mehr als Henriette es ist.»
Einen Augenblick lang stand sie schweigend da, das Gesicht zum Fenster gewandt. Draußen ging ein feiner Herbstregen nieder. Der Himmel sah wie Watte aus über den fast kahlen Bäumen.
Heiteren Sinnes trat Marianne dicht vor mich hin undlegte mir die Hände auf die Schultern: «Sage mir, was du vorhast, damit ich keinen Fehler mache, wenn ich an dich denke.»
«Ich gehe ins Laboratorium hinunter und arbeite, bis ich schläfrig werde. Und du, was wirst du tun?»
«Wir gehen erst rasch in unser Stadthaus und essen eine Kleinigkeit, und dann werde ich mich bis ein Uhr in der Frühe auf diesem Ball langweilen.»
«Mutter, bist du fertig?» fragte Henriette, die ins Zimmer trat.
Sie war zierlich gebaut und schlank wie ihre Mutter und hatte auch von ihr die blauen Augen geerbt; aber ihre Stirn war ein wenig zu hoch und ihre Nase zu kräftig, es war die Foscasche Nase. Sie trug ein mit kleinen Sträußchen übersätes Kleid, das zu ihren energischen Zügen nicht recht passen wollte. Sie bot mir ihre Stirn zum
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