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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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das gleiche. Seit dem Morgen, seit den ersten Tagen der Welt immer Langeweile, Müdigkeit und das Surren der Zeit. Die Webstühle surrten, immer, immer gleich, in den Straßen von Carmona und in den Straßen von Gent, wo unaufhörlich die Weberschiffchen hin und her gingen; auf und ab, auf und ab; Häuser standen in Flammen, Choräle tönten aus Feuersäulen auf, Blut mischte sich in das violette Wasser der Gossen, und ohne Unterlaß schnurrten die Maschinen, auf und ab, auf und ab. Hände tauchten den Pinsel in die rote Brühe und preßten ihn auf das Papier. Dem Buben war der Kopf auf die Brust gesunken, er schlief. Leben hieß für sie nur gerade nicht sterben. Nicht sterben 40 oder 50   Jahre lang, und dann schließlich doch sterben. Wozu sich erst noch abrackern? Sie würden auf jeden Fall bald frei sein von aller Last; einer nach dem andern würden sie alle sterben. Da drüben kroch der Schatten der Palme auf den Kieselstein zu, das Meer schlug an das Ufer. Ich hatte große Lust, zur Tür hinauszugehen und Stein unter Steinen zu werden.
    Der Bub machte wieder die Augen auf.
    «Hat es noch nicht geschlagen?»
    «In fünf Minuten wird es soweit sein.»
    Er lächelte, und begierig schloß ich dies Lächeln in meinHerz. Durch diesen Lichtstrahl auf seinem Gesicht hatte sich alles gewandelt: das Surren der Maschinen, der Farbgeruch, selbst die Zeit, die nicht mehr wie ein Tuch ausgebreitet lag; es gab auf Erden Hoffnungen, Trauer, es gab Liebe und Haß. Und am Ende gab es den Tod, aber sie hatten gelebt. Nicht Ameisen und nicht Steine   – Menschen waren sie. Durch dieses Lächeln hatte Marianne mir wieder ein Zeichen gegeben: glaub an sie, und bleib bei ihnen, bleibe selber ein Mensch. Ich legte dem Kind die Hand auf den Kopf. Wie lange noch würde mir möglich sein, diese Stimme zu hören? Und wenn ihr Lächeln und ihre Tränen kein Echo mehr in mir fanden, was würde dann aus mir werden?
     
    «Es ist zu Ende», sagte ich.
    Der Mann blieb auf dem Rand des Stuhls sitzen und starrte verständnislos auf das blaue Gesicht, das auf dem Kopfkissen ruhte. Eine Frau war gestorben, eine andere im sechsten Stock war gerettet worden; es hätte auch umgekehrt sein können; für mich war es ganz egal. Aber für diesen Mann hier war diese Frau gestorben: es war seine Frau.
    Ich verließ das Zimmer. Beim Ausbruch der Epidemie hatte ich mich als Krankenpfleger gemeldet und brachte meine Nächte damit zu, Saugpflaster und Blutegel anzusetzen. Sie wollten gesunden, und ich versuchte, ihnen Heilung zu geben: ich versuchte ihnen zu helfen und mir selbst keine Fragen zu stellen.
    Die Straße lag verlassen da, aber man hörte rechts und links das Geklirr von Eisen: es waren Artillerielastwagen, die man jetzt verwendete, um die Särge fortzuschaffen, und die sich schwankend vorwärts bewegten. Man erzählte sich, daß durch das Rumpeln oft die Balken zerbrächen, so daß die Leichen beim Aufschlagen auf das Pflaster häßliche Lachen auf der Straße hinterließen. In den Straßen aus rosa Gestein trugen Männer auf Bettüchern und auf Plankenschwarzgefleckte Leichen einher, die man achtlos in die Gruben warf. Wer fliehen konnte, floh; zu Fuß, zu Pferd, auf Mauleseln zogen sie durch die Tore der Stadt; in Postkutschen, Bauernkarren, in Chaisen galoppierten sie durch das Weichbild von Paris hinaus: der Adel, die reichen Bürger, die Beamten, die Abgeordneten, alles, was Geld hatte, war schon fort, und die zum Tode Verurteilten tanzten die Nächte hindurch in den verlassenen Palästen, sie hörten die Stimme des großen schwarzen Mönchs, der morgens auf dem Platz predigte; die Armen hatten nicht fliehen können, sie waren in der verseuchten Stadt geblieben, sie lagen in ihren Betten mit eiskalten Gliedern oder vom Fieber geschüttelt, mit einem blauen Schein im Gesicht, auf dem Gesicht eine schwarze Maske, mit schwarzen Flecken am Leib. Am Morgen lagen die Leichen aufgereiht vor den Türen, und der Geruch des Todes stieg schwer zum blauen Himmel empor; unter dem grauen Himmel brachte man die Sterbenden in das Krankenhaus, die Türen schlossen sich über ihrem Todeskampf; umsonst belagerten Verwandte und Freunde die Tore, um bei ihrem letzten Seufzer zugegen zu sein.
    Ich öffnete von außen die Tür. Armand saß am Fuß des Bettes, und Garnier stand an dem Tisch, auf dem eine Kerze brannte.
    «Warum seid ihr gekommen?» fragte ich. «Wie unvernünftig von euch! Habt ihr kein Vertrauen zu mir?»
    «Wir werden ihn doch nicht allein

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