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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mir, für sie die Wahl zu treffen.
    «Sicher wird es Zwischenfälle geben», sagte Armand. «Wenn ihr auch nicht dafür seid, den Aufstand zu provozieren, so müssen wir doch unsere Maßnahmen treffen für den Fall, daß er eintritt.»
    «Das ist richtig», sagte Garnier. «Wir wollen keine Parole ausgeben, aber uns bereithalten, und wenn das Volk marschiert, dann marschieren wir mit.»
    «Ich fürchte», meinte Broussaud, «sie werden nicht zu marschieren anfangen, ohne die Chancen abzuwägen.»
    «Auf alle Fälle muß die republikanische Partei sie stützen.»
    «Im Gegenteil   …»
    Von neuem entstand ein Stimmengewirr; sie sprachen laut, ihre Augen blitzten, ihre Stimmen bebten; und jenseits dieser Mauern gab es im gleichen Augenblick Millionen solcher Menschen, die mit blitzenden Augen sprachen und deren Stimmen zitterten, und während sie sprachen, lagen die Revolution, Frankreich, die Republik, die Zukunft der Welt in ihren Händen; wenigstens glaubten sie es: das Geschick der Menschheit ging ihnen ernstlich zu Herzen. Eine ganze Stadt war in wirbelnder Bewegung rings um den Katafalk, in welchem die Überreste des Generals Lamarque ruhten, der allen ganz gleichgültig war.
    Keiner von ihnen schlief heute nacht. Man war damit beschäftigt, überall längs der Boulevards Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen herzustellen. Wenn der Aufstand gelang, mußte man sich bemühen, La Fayette dazu zu bringen, daß er die Macht übernähme, denn er war der einzige, auf den sich die Menge dank dem Prestige seines Namens würde einigen wollen. Garnier beauftragte Armand,im Falle des Gelingens mit den hauptsächlichen republikanischen Führern zu verhandeln; er selber wollte Menschenmassen am Pont d’Austerlitz sammeln und dann versuchen, die Vorstadt Saint-Marceau zur Erhebung zu bringen.
    «Du wärest der richtige, um zu verhandeln», sagte Armand. «Deine Stimme hat mehr Gewicht als die meinige. Und Fosca, der den Arbeitern nähersteht als wir, kann die Austerlitz-Brücke halten.»
    «Nein», sagte Garnier. «Ich habe in meinem Leben genug geredet. Diesmal will ich kämpfen.»
    «Ja, und wenn du dich töten läßt, wäre es besonders schlau», sagte Spinelli. «Was soll dann aus der Zeitung werden?»
    «Damit werdet ihr sehr gut ohne mich zurechtkommen.»
    «Armand hat recht», sagte ich. «Ich kenne die Arbeiter von Saint-Marceau; laßt mich die Erhebung organisieren.»
    Garnier lächelte kühl: «Sie haben mir einmal das Leben gerettet: das genügt.»
    Ich blickte auf seinen nervösen Mund, die beiden Falten in den Winkeln, das ganze zerquälte Gesicht mit den strengen, etwas unsteten Augen. Er blickte starr auf den Horizont, hinter dem sich der wirbelnde Strom verbarg, grüne Wedel wiegten sich auf hohen Halmen, und Alligatoren schliefen im heißen Uferschlamm; er sagte: «Ich muß leben, und wenn ich darüber sterbe.»
    Am Morgen um zehn Uhr waren alle Mitglieder der «Menschenrechte» und der «Freunde des Volkes», die Medizinstudenten und Studenten der Rechte auf der Place Louis-Quinze versammelt. Die Schüler der École Polytechnique waren nicht erschienen; es hieß, sie seien eingezogen worden. Über ihren Köpfen schwebten Banner, Trikoloren und grüne Zweige: jeder hielt irgendein Abzeichen in der Hand, und einige schwangen Waffen. Der Himmel war bedeckt, esfiel ein feiner Regen; aber der blutrote Hauch der Hoffnung schwelte in ihren Herzen. Irgend etwas mußte sich jetzt in ihrem Leben ereignen: sie glaubten fest daran. Sie glaubten, daß sie etwas vermöchten, sie klammerten die Hand um den Revolvergriff, bereit zu sterben, um sich selbst zu überzeugen, bereit ihr Leben herzugeben, um sich zu bestätigen, daß es Gewicht auf Erden besaß.
    Der Leichenwagen wurde von sechs jungen Leuten gezogen; La Fayette hielt die Quasten des Bahrtuchs; zwei Bataillone von 10   000   Municipalgarden folgten. Überall am Weg hatte die Regierung Wachen aufgestellt; diese ungeheure Machtentfaltung war weit entfernt, die Gemüter zu beruhigen: sie machte ihnen die Gefahr des Aufruhrs nur um so mehr bewußt. Eine Menschenmenge drängte sich auf dem Fahrdamm, an den Fenstern, auf den Bäumen und Dächern; von den Balkons flatterten italienische, deutsche und polnische Fahnen, die an die Existenz von Tyrannenstaaten erinnerten, welche die französische Regierung nicht hatte niederkämpfen können. Auf dem Marsch sang das Volk revolutionäre Lieder. Armand sang, und ebenso Spinelli, den ich von der Cholera gerettet

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