Alle Menschen sind sterblich
normaler Mensch würde nach einem solchen Hieb auf seinen Füßen stehen.» Er ergriff mein Handgelenk: «Sagen Sie mir die Wahrheit.»
«Welche Wahrheit?» fragte ich.
«Warum sind Sie um mich besorgt? Warum sind wir uns ähnlich? Wieso sind Sie nicht gestorben, wo doch das Bajonett glatt hindurchgegangen ist?» Er redete wie im Fieber, und seine Finger verkrampften sich um meinen Arm: «Schon lange ahnte ich es …»
«Ich weiß wirklich nicht, was Sie sagen wollen.»
«Seit meiner Kindheit weiß ich, daß es unter meinen Ahnen einen gibt, der nie sterben wird; seit meiner Kindheit habe ich mir gewünscht, ihm einmal zu begegnen …»
«Auch Ihre Mutter hat mir von dieser Legende erzählt», sagte ich. «Glauben Sie wirklich daran?»
«Ich habe immer daran geglaubt», sagte er. «Und ich habemir vorgestellt, daß wir zusammen Großes vollbringen könnten, wenn er auch nur ein bißchen Zuneigung zu mir faßte.»
Seine Augen blitzten, er sah mich mit leidenschaftlichem Eifer an; Karl V. hatte den Kopf zur Seite gewandt; seine Unterlippe hing herab, seine Lider lagen schwer über seinen Augen, die starr waren, wie erstorben, und ich gelobte mir: wir werden Großes vollbringen. Ich versank in Schweigen.
Armand brach ungeduldig los: «Ist es ein Geheimnis? Warum wird es als etwas so Mysteriöses behandelt?»
«Sie halten mich für unsterblich, und Sie können mich doch ohne Grauen betrachten?»
«Was ist denn Grauenhaftes dabei?»
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht; er sah plötzlich sehr jung aus, und in meinem Herzen begann sich etwas zu regen: etwas sehr Altes schon mit einem Duft nach vergangener Zeit, beinahe wie verwest; Springbrunnen rauschten dazu.
«Sie sind es doch, nicht wahr?»
«Ja.»
«Dann gehört uns die Zukunft», rief er aus. «Ich danke Ihnen, daß Sie mir das Leben gerettet haben!»
«Freuen Sie sich nicht», sagte ich. «Es ist gefährlich für sterbliche Menschen, an meiner Seite zu leben. Ihre Existenz erscheint ihnen auf einmal zu kurz, ihr Unterfangen eitel.»
«Ich weiß sehr wohl, daß ich genau nur ein Menschenleben vor mir habe», sagte er. «Ihre Gegenwart ändert daran nichts.» Er sah mich an, als erblickte er mich zum erstenmal, und schon suchte er begierig die Chance zu nutzen, die sich ihm da bot. «Wie viele Dinge Sie schon mit angesehen haben! Waren Sie bei der Großen Revolution dabei?»
«Ja.»
«Das müssen Sie mir erzählen», sagte er.
«Ich habe mich nicht viel darum gekümmert», sagte ich.
«Ach!» Etwas enttäuscht sah er mich an.
Ohne Übergang bemerkte ich: «Hier bin ich zu Hause.»
«Würde es Sie stören, wenn ich einen Augenblick mit heraufkäme?»
«Mich stört niemals etwas», sagte ich.
Ich öffnete die Tür zur Bibliothek. Marianne lächelte aus ihrem ovalen Rahmen heraus, ihr blaues Kleid ließ die jungen Schultern frei.
«Das ist die Großmutter Ihrer Mutter», sagte ich. «Sie war meine Frau.»
«Sie war schön», bemerkte Armand höflich. Er blickte sich im Zimmer um. «Haben Sie alle diese Bücher gelesen?»
«So ziemlich, ja.»
«Sie müssen ein großer Gelehrter sein.»
«Ich interessiere mich nicht mehr für die Naturwissenschaft.»
Ich schaute zu Marianne hin; ich hatte Lust, von ihr zu reden; so lange schon war sie tot; aber für Armand begann sie erst heute zu existieren; in seinem Herzen konnte sie auferstehen, schön und jung und entflammt.
«Sie glaubte an die Naturwissenschaft», sagte ich. «Sie glaubte wie Sie an den Fortschritt, an die Vernunft, an die Freiheit. Sie war leidenschaftlich am Glück der Menschheit interessiert …»
«Glauben Sie nicht daran?» fragte er.
«Doch, sicher», sagte ich. «Aber für sie war es doch etwas anderes. Sie war so lebensvoll; alles, was sie berührte, wurde gleichfalls lebendig: die Blumen, die Ideen …»
«Die Frauen geben sich oft viel mehr aus als wir», sagte Armand.
Wortlos zog ich die Vorhänge zu und zündete eine Lampe an.
Was war Marianne für ihn! Eine Tote unter Millionen anderer.Sie lächelte ihr erstarrtes Lächeln aus dem ovalen Rahmen heraus; niemals würde sie von neuem zum Leben erwachen.
«Warum interessieren Sie sich nicht mehr für die Naturwissenschaft?»
Er schwankte vor Müdigkeit, die Augen fielen ihm zu; aber er würde mich ganz sicher nicht verlassen, bevor er herausgefunden hatte, wie ich ihm nützen konnte.
«Sie gestattet dem Menschen nicht, von sich loszukommen.»
«Sollte er denn das?»
«Sie haben es sicher nicht
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