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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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einzige, der keine Angst vor mir hatte; aber es gelang uns nie, zu einem Gespräch zu kommen.
    «Es wird einen Prozeß geben», sagte ich schließlich. «Aber wir werden ihn gewinnen.»
    Die Tür flog auf, und Spinelli trat ein. Sein Gesicht war rosig angehaucht, in seinen gekräuselten Haaren hing ein Hauch von Kälte und Nacht. Er warf sein Halstuch auf einen Stuhl.
    «In Ivry», sagte er, «hat es eine Revolte gegeben. Die Arbeiter haben die Webmaschinen zerschlagen. Man hat Truppen herbeigerufen, die mit Bajonetten angegriffen haben.»
    Er überstürzte sich so beim Sprechen, daß er stammelte. Ihm bedeuteten die Arbeiter nichts oder die zerstörten Maschinen oder das vergossene Blut; er war glücklich, weil er seiner Zeitung wichtige Nachrichten brachte.
    «Hat es Tote gegeben?» fragte Garnier.
    «Drei Tote und mehrere Verwundete.»
    «Drei Tote   …»
    Garniers Gesicht war ganz Spannung. Auch er war weit von Ivry entfernt, von den Schreien und Schüssen; er sah vor sich die Überschrift in großen Lettern: TRUPPE GREIFT ARBEITER MIT BAJONETTEN AN. Er erwog, mit welchen Worten er den Artikel beginnen sollte.
    «Sie zerbrechen die Maschinen», sagte Armand. «Man müßte ihnen klarmachen, daß das Wahnsinn ist   …»
    «Wozu?» sagte Garnier. «Die Hauptsache ist, daß überhaupt ein Aufstand stattgefunden hat.» Er wandte sich zu Spinelli: «Ich gehe hinunter in die Druckerei; komm mit.»
    Sie gingen, und Armand setzte sich mir gegenüber auf einen Sessel; er überlegte.
    «Garnier täuscht sich», sagte er dann. «Diese Aufstände nützen nichts. Sie hatten recht, als Sie mir erklärten, man müsse das Volk erst erziehen.» Er zuckte die Achseln. «Wenn man bedenkt, daß sie jetzt die Maschinen zerstören!»
    Ich gab ihm keine Antwort, er erwartete es auch nicht. Er sah mich grübelnd an, und ich konnte nicht erraten, welchen Gedanken er, in meine Züge versenkt, verfolgte.
    «Was alles noch schwieriger macht», sagte er, «ist, daß sie uns mißtrauen. Abendkurse, öffentliche Versammlungen, Broschüren sind nicht die Mittel, an sie heranzukommen. Unsere Worte gleiten an ihnen ab.»
    In seiner Stimme lag ein Ton der Aufforderung. Ich lächelte ihn an: «Was erwarten Sie von mir?»
    «Um Einfluß auf sie zu gewinnen, müßte man unter ihnen leben, an ihrer Seite kämpfen; kurz: einer von ihnen sein.»
    «Sie möchten, daß ich Arbeiter werde?»
    «Ja», sagte er, «das könnte eine enorme Hilfe bedeuten.»
    Er sah mich erwartungsvoll an, und ich fühlte mich in Sicherheit unter diesem Blick: ich stellte für ihn nur gerade eine Möglichkeit dar, die man ausbeuten konnte. Ich flößte ihm weder Grauen noch freundschaftliche Gefühle ein: er bediente sich meiner, weiter nichts.
    «Von einem sterblichen Menschen würde man damit ein großes Opfer verlangen. Aber was können für Sie schon zehn oder fünfzehn Lebensjahre ausmachen.»
    «Tatsächlich», sagte ich, «bedeutet es nicht viel.»
    Er strahlte: «Sie würden es wirklich tun?»
    «Ich kann es versuchen», sagte ich.
    «Oh! Es ist nicht schwer», sagte er. «Wenn Sie es überhaupt versuchen, gelingt es Ihnen auch.»
    «Ich werde es versuchen», wiederholte ich.
    Ich lag im Gras neben dem Ameisenhaufen, sie war gekommen, ich war aufgestanden, und sie hatte zu mir gesagt:
    «Bleibe ein Mensch unter Menschen.»
    Ich hörte noch ihre Stimme, ich sah sie an, und ich sagte: «Es sind Menschen.»
    Aber in der Werkstatt, wo die Dunkelheit einfiel, während ich Rollen von feuchtem Papier mit roter, gelber und blauer Farbe bestrich, vermochte ich nicht die Stimme in mir zu betäuben, die immer wieder fragte: Was ist denn ein Mensch? Was können sie mir bedeuten? Unter unseren Füßen zitterte der Fußboden von dem Geräusch der Maschinen: es war genau der Schritt der ruhelosen und doch stagnierenden Zeit.
    «Ist es noch viel?» fragte der Bub.
    Auf seinem Schemel stehend, zerrieb er die Farben in einem Mörser; ich fühlte, wie steif sein Rücken, wie eingeschlafen seine Beine und wie leer ihm der Kopf war und wie ihn die Schwere in allen Gliedern fast zu Boden zog.
    «Du bist müde?»
    Er antwortete nicht einmal.
    «Ruhe dich einen Augenblick aus», sagte ich.
    Er setzte sich auf die oberste Stufe des Tritts und machte die Augen zu. Seit dem frühen Morgen fegten die mit flüssiger Farbe getränkten Pinsel über die Rollen von Papier; schon seit dem Morgen herrschte das gleiche trübe Licht, der Farbgeruch, das gleichmäßige, rhythmische Surren: immer, immer

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