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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nötig.» Und beinahe schroff fügte ich hinzu: «Sie sollten sich etwas ausruhen. Sie sehen völlig erschöpft aus.»
    «Ich habe die letzten drei Tage nur sehr wenig geschlafen.» Er lächelte, als wollte er sich entschuldigen.
    «Es ist eine beträchtliche Zumutung, am gleichen Tag zu sterben und wieder aufzuerstehen», sagte ich. «Legen Sie sich dort auf den Diwan und schlafen Sie sich aus.»
    Er warf sich auf das Kanapee: «Ein Stündchen», sagte er.
    Ich blieb neben dem Diwan stehen. Der Abend sank herab. Da drüben erhob sich der Lärm der Feste in der Dämmerung, aber hier in diesem Zimmer mit den geschlossenen Vorhängen hörte man keinen anderen Ton als Armands leichte Atemzüge. Er war schon eingeschlafen. Zum erstenmal seit vier Tagen war er frei von Hoffnung und Furcht; er schlief, und ich war wach und fühlte in meinem Herzen das ganze Gewicht dieses Tages, der hinter den Fensterscheiben lastend zu Ende ging. Verödete Plätze von Pergola, vergoldete, unerreichbare Kuppeln von Florenz, fader Weingeschmack auf dem Balkon von Carmona   … Aber er kannte auch den Rausch des Triumphs, das ungeheure Lachen Malatestas, und kannte jenes Lächeln, mit dem Antonio starb; Carlier warf einen Blick auf den gelben Strom und lachtehöhnisch auf: «Ich bin angekommen.» Mit meinen Händen zerriß ich das Hemd, das Leben war zum Ersticken für mich. Und in seiner Brust war auch Hoffnung zu Hause: die rote Sonne am Himmel, der trächtig war von Schnee, die blaue Linie der Hügel weit hinten in der Ebene, die schwindenden Segel am Horizont, die verschlungen wurden von der Rundung der Erde. Ich beugte mich über Armand, ich sah das junge Gesicht mit dem schwarzen Haargekräusel darin: wovon träumte er? Er schlief, wie Tankred, Antonio, Karl   V. und Carlier geschlafen hatten; sie alle glichen sich; und doch hatte das Leben für jeden einen anderen Geschmack, den nur er allein kannte: nie war es wieder dasselbe; in jedem einzelnen trug es sich ausschließlich und einmalig zu, und jedesmal war es wieder neu. Er träumte nicht von den Plätzen Pergolas und nicht vom gelben Strom; er hatte seine Träume für sich, von denen ich ihm nicht das kleinste Stückchen entreißen konnte; nie würde es mir gelingen, mir selber zu entrinnen und in einen von ihnen einzugehen; wohl konnte ich ihm nützen, aber ich würde niemals mit seinen Augen sehen, mit seinem Herzen fühlen. Für immer schleppte ich sie hinter mir her: jene rote Sonne, das Schäumen des schlammigen Flusses, die verhaßte Öde in Pergola: meine Vergangenheit! Schon trug mich der Strom von Armand fort; ich hatte von ihm nicht mehr zu erwarten als von irgend jemandem sonst.
     
    Der Rauch bildete einen bläulichen Ring in der gelben Luft, dann zog die Rundung sich auseinander und zerflatterte. Irgendwo an einem silbernen Strand kroch ein Palmenschatten auf einen weißen Kieselstein zu. Ich hätte gern an jenem Strand gelegen; jedesmal, wenn ich mich zwang, ihre Sprache zu sprechen, fühlte ich mich müde und leer.
    «Auf dem Gebiet des Druckes und der Publikation ist der In-flagranti-Fall nur gegeben, wenn ein Aufruf zur Erhebungan einer Stelle gedruckt wird, die den Organen der Polizei im voraus bekannt ist. Nicht einer der seit vier Wochen auf einen Haftbefehl hin gefangengesetzten Schriftsteller ist wirklich in flagranti ertappt.»
    Im Nebenzimmer las Armand meinen Artikel mit lauter Stimme vor, und die anderen hörten zu; manchmal klatschten sie Beifall, weil ihnen eine Stelle besonders gut gefiel. Sie klatschten Beifall, aber hätte ich die Tür aufgemacht, so wären ihre Mienen gleichsam erfroren gewesen. Ich konnte wohl mit ihnen nächtelang arbeiten und schreiben, was sie wollten, ich blieb doch ein Fremder für sie.
    «Ich behaupte, daß man, wenn man einen unschuldigen Menschen von seiner Familie losreißt, auf Grund einer ungesetzlichen Anklage im Kerker gefangenhält und ihn dann verurteilt, weil ihm Verzweiflung und Zorn ein bitteres Wort gegen die Staatsgewalt entrissen haben, die heiligen Rechte, die das französische Volk mit seinem Blut erkauft hat, mit Füßen tritt.»
    Ich hatte diese Worte geschrieben und dabei gedacht: Marianne würde mit mir zufrieden sein; doch schon erkannte ich sie nicht wieder; es war nichts mehr als Schweigen in mir.
    «Das ist ein Artikel, der Aufsehen erregen wird», sagte Garnier.
    Er war an meinen Tisch getreten und sah mich mit nervös zuckenden Lippen an. Gern hätte er mir etwas Liebenswürdiges gesagt; er war der

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