Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
Armand. «Schlafe jetzt ganz ruhig. Du bist durchgekommen.»
    Die Lider senkten sich wieder.
    Armand drehte sich zu mir um: «Ist es wahr? Kommt er durch?»
    Ich faßte Spinellis Hand. Sie war nicht mehr kalt; und der Puls war zu spüren.
    «Er muß die Nacht überstehen», sagte ich. «Vielleicht übersteht er sie.»
    Schon nahte die Morgendämmerung. Ein großer, schwarzverhangener Wagen fuhr unter den Fenstern vorbei und sammelte von Haus zu Haus die Särge auf, die sich unter den Planen häuften. Längs der ansteigenden Straße mit dem rosigen Steinpflaster fuhren Karren von Haus zu Haus, und Leichname häuften sich unter dem Zelttuch. Armand hatte die Augen geschlossen; er saß auf seinem Stuhl und schlief; mit ausdrucksloser Miene lehnte Garnier an der Wand. An der Straßenkreuzung war das Feuer erloschen, die Lumpensammler hatten sich zerstreut. Eine Weile blieb der Platz leer,dann trat ein Pförtner auf die Schwelle seiner Tür und blickte mißtrauisch prüfend auf das Straßenpflaster; es ging das Gerücht, man fände manchmal unter den Hauseingängen Fleischstücke und merkwürdige Dragées, die von unbekannten Händen dort hingeworfen waren; es gab Menschen, sagte man, die die Brunnen und das Fleisch in den Metzgereien vergifteten, eine ungeheure Verschwörung bedrohte das Volk; es hieß, ich hätte mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, und sie spien voll Abscheu aus, wenn ich vorüberging.
    Garnier murmelte: «Er hat die Nacht überstanden.»
    «Ja.»
    Etwas Blut belebte jetzt Spinellis Wangen, seine Hand war warm, und man spürte seinen Puls.
    «Er ist gerettet», sagte ich.
    Armand schlug die Augen auf. «Gerettet?»
    «So gut wie sicher.»
    Armand und Garnier blickten sich an; ich wandte die Augen ab. Durch diesen Blick teilten sie sich gegenseitig die tiefe Freude in ihrem Herzen mit. In solchem Austausch eines Siegesgefühls fanden sie die Kraft, dem Tod die Stirn zu bieten, und einen Grund zu leben. Warum mußte ich selber dabei die Augen zur Seite wenden? Ich stellte mir in Gedanken Spinellis Erscheinung vor: er war 20   Jahre alt, und er liebte das Leben, ich dachte an seinen strahlenden Blick und daran, wie er stammelte, wenn er aufgeregt war; ich hatte ihn gerettet; ich hatte den eisigen See durchschwommen, ihn an das Ufer zurückgebracht, ihn auf meinen Armen getragen; ich hatte aus dem Indianerdorf Mais und Fleisch geholt, das er lachend vor Behagen verzehrte; ein Loch im Leib, ein Loch im Kopf: wie würde dieser hier sterben? Ich fand in meinem Herzen keinen Funken von Freude.
     
    «Also?» fragte Garnier.
    Im Redaktionssaal des
‹Progrès›
hatten sich das Zentralkomiteeund die Sektionschefs der Gesellschaft für Menschenrechte um den alten Broussaud versammelt. Sie blickten alle gespannt auf mich.
    «Es ist mir also nicht gelungen, der Gallischen Gesellschaft oder dem Organisationskomitee näherzutreten», sagte ich. «Nur mit den ‹Freunden des Volkes› habe ich Kontakt bekommen. Sie sind für eine Erhebung, aber sie haben noch nichts Endgültiges entschieden.»
    «Wie konnten sie auch etwas entscheiden, ohne unsere Entschlüsse zu kennen?» meinte Armand. «Und wie werden wir uns ohne sie entscheiden?»
    Es trat eine Stille ein. Dann sagte Garnier: «Wir müssen uns entscheiden.»
    «Da es uns nicht gelingt, unseren Bemühungen eine gleiche Richtung zu geben, lassen wir es lieber sein. Es ist unmöglich, unter solchen Voraussetzungen eine wirkliche Revolution zu machen.»
    «Wer weiß?» meinte Armand.
    «Selbst wenn die Erhebung nur ein vereinzelter Aufstand wäre», warf Garnier ein, «würde er nicht ohne Nutzen sein. Bei jeder Revolte wird das Volk sich seiner Macht mehr bewußt; die Kluft, die es von den herrschenden Klassen trennt, vertieft sich jedesmal mehr.»
    Im Saal entstand Unruhe. «Es besteht dabei die Gefahr, daß viel Blut fließen wird», sagte eine Stimme.
    «Viel Blut, und umsonst», bemerkte ein anderer.
    Eine lebhafte Diskussion entstand. Armand fragte mich halblaut: «Was halten Sie davon?»
    «Ich habe keine Meinung darüber.»
    «Ihnen fehlt es doch nicht an Erfahrung», sagte er. «Sie müssen doch eine Meinung haben   …»
    Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich ihnen raten können? Wußte ich, was in ihren Augen das Leben, der Tod bedeutete? Sie mußten es selbst entscheiden. Wozu leben,wenn leben nur heißt, daß man im Augenblick noch nicht stirbt? Aber sterben, um sein Leben zu retten, ist das nicht schlimmster Selbstbetrug? Doch war es nicht an

Weitere Kostenlose Bücher