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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sterben lassen», sagte Armand.
    Garnier sagte nichts; er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt und blickte starr auf die im Bett ruhende Gestalt. Ich beugte mich über Spinelli. Seine zusammengeschrumpfte Haut lag ihm dicht auf den Knochen; schon zeichnete sich gespenstisch der Schädel ab unter dem bläulichen Pergament; sein Mund war weiß, und kalter Schweißbedeckte seine Stirn. Ich griff nach seinem Handgelenk; es war kalt und feucht, der Puls stockte fast ganz.
    «Ist gar nichts zu machen?» fragte Armand.
    «Ich habe alles versucht.»
    «Er sieht schon aus wie ein Toter   …»
    «Zwanzig Jahre», sagte Garnier. «Und wie hing er am Leben   …»
    Verzweifelt blickten beide nieder auf das zusammengeschrumpfte Gesicht. Für sie war dies erlöschende Leben hier etwas Einmaliges, es war das Leben Spinellis, der 20   Jahre alt und außerdem ihr Freund war. Einmalig wie die blonden Flecke, die in der Zypressenallee tanzten. Ich sah Beatrice an und fragte mich: Gleicht sie diesen Insekten, die nur einen Abend lang leben? Ich liebte sie, und sie schien anders zu sein; aber jetzt liebte ich sie nicht mehr, und ihr Tod hatte nicht mehr zu bedeuten als der einer Eintagsfliege.
    «Wenn er bis morgen aushält», sagte ich, «kommt er vielleicht noch davon.»
    Ich schob die Hände unter das Bettuch und begann langsam mit aller Kraft den erstarrten Körper zu reiben. Ich hatte ihn auf meinen Mantel ausgestreckt, und meine Hände kneteten seine jungen Muskeln. Ich setzte ihn ein zweites Mal in die Welt, und er verließ sie dennoch mit einem Loch im Leib: ich hatte ihm Mais und gedörrtes Fleisch gebracht, und er hatte sich eine Kugel durch den Kopf geschossen, weil er Hungers zu sterben begann. Ich rieb ihn eine lange Weile, und unter meinen Händen stieg etwas Wärme zum Herzen auf.
    «Mag sein, daß er durchkommt», sagte ich.
    Draußen rannten Leute unter dem Fenster vorbei; sicher holten sie Hilfe bei der Polizeistation, deren rotes Licht an der Straßenecke leuchtete. Dann herrschte wiederum Stille.
    «Ihr solltet ruhig gehen», sagte ich. «Ihr könnt ihm hier doch nichts nützen.»
    «Wir müssen da sein», sagte Armand. «Ich würde auch gern meine Freunde um mich haben, wenn ich sterbe.»
    Er blickte liebevoll auf Spinelli herab, und ich wußte, daß er den Tod nicht fürchtete. Ich wendete mich Garnier zu; dieser Mensch beschäftigte mich, es stand nichts Liebevolles, sondern nur Furcht in seinem Blick.
    «Überlegt es euch. Die Ansteckungsgefahr ist wirklich groß.»
    Er verzog ein wenig den Mund, und wieder schien es mir, als ob er gern mit mir gesprochen hätte; aber er war verschlossen; fast niemals sah man ihn lächeln, und niemals wußte man, was er wirklich dachte. Plötzlich ging er ans Fenster und machte es auf.
    «Was geht da draußen vor?»
    Ein mächtiger Lärm stieg aus der Straße auf. Allnächtlich wurde an der Straßenkreuzung ein Feuer entzündet, von dem man hoffte, es würde die Atmosphäre reinigen; beim Schein der Flammen konnten wir elend gekleidete Männer und Frauen erkennen, die einen zweirädrigen Karren über den Platz zogen. «Nieder mit den Ausbeutern!» schrien sie dabei.
    «Die Lumpensammler», sagte Garnier.
    Eine Verordnung befahl, daß die Abfälle im Laufe der Nacht entfernt würden, ehe jene ihren Beutezug machen konnten; ihres Erwerbs beraubt, riefen sie haßerfüllt: «Nieder mit den Ausbeutern!» Sie schrien: «Teufelssohn!» und spien aus.
    Garnier schloß das Fenster.
    «Wenn wir nur Führer hätten», sagte Armand. «Das Volk ist reif für eine Revolution.»
    «Höchstens für einen Aufstand», warf Garnier ein.
    «Wir müßten imstande sein, den Aufstand in eine Revolution zu verwandeln.»
    «Wir sind zu uneinig dazu.»
    Die Stirn ans Fenster gelehnt, träumten sie von Aufstand, von Mord. Ich betrachtete sie, ohne sie zu verstehen. Manchmal schien es mir, als ob die Menschen lächerlich viel Wesens machten von einem Leben, das unweigerlich der Tod zerstören würde: Warum hatten sie Spinelli mit soviel Verzweiflung betrachtet? Und manchmal waren sie allzuleicht bereit, für immer unterzugehen: Warum blieben sie unnötig lange in diesem verseuchten Zimmer zurück? Weshalb auf blutigen Aufstand sinnen?
    Eine Stimme murmelte: «Armand!»
    Spinelli hatte die Augen aufgeschlagen; seine Augäpfel sahen wie geschmolzen aus, sie lagen wie verloren in der Tiefe der Augenhöhlen; aber es waren lebendige Augen, Augen, die uns sahen.
    «Werde ich sterben?»
    «Nein», sagte

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