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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Sanier.
    «Bitten Sie immerhin.»
    «Würden Sie bereit sein, uns ein paar Gedichte zu sprechen?»
    «Du weißt doch, daß sie nie will», sagte Flora.
    Regines Blick eilte durch den Raum. Fosca stand an eine Wand gelehnt und ließ kein Auge von ihr. Sie stand auf.
    «Wenn Sie wollen», sagte sie. «Ich werde
‹Die Klage der schönen Helmschmiedin›
sprechen.»
    Sie trat in die Mitte des Raums vor, während allgemeine Stille eintrat.
    «Fosca», murmelte sie, «hören Sie gut zu. Ich spreche diese Verse für Sie.»
    Er neigte verstehend den Kopf. Mit jenen Augen, die so viele durch Schönheit, durch Geist berühmte Frauen ausnächster Nähe geschaut hatten, blickte er sie verlangend an. Für ihn bildeten alle diese verstreuten Lebensgeschichten eine einzige Geschichte, und Regine trat jetzt in diese Geschichte ein; sie konnte sich messen mit den verblichenen Rivalinnen, mit denen auch, die bislang noch nicht geboren waren. Ich werde über sie triumphieren und werde das Spiel gewinnen in Vergangenheit und Zukunft. Ihre Lippen bewegten sich, und jede Schwingung ihrer Stimme hallte wider im Echo vieler Jahrhunderte.
    «Regine, ich würde gern sehen, wenn wir jetzt nach Hause gingen», sagte Roger, als sie sich unter allgemeinem Klatschen wieder hingesetzt hatte.
    «Ich bin nicht müde», sagte sie.
    «Aber ich. Bitte, komm», sagte er.
    Sein gleichzeitig bittender und befehlender Ton reizte Regine.
    «Gut», sagte sie ungnädig. «Gehen wir.»
    Auf der Straße schritten sie schweigend dahin. Sie dachte an Fosca, der mitten im Salon stehengeblieben war und nun andere Frauen ansah. Sie hatte aufgehört, für ihn und damit auch für die Ewigkeit zu existieren; die Welt rings um sie her war leer wie ein Schellengeklingel. Er muß immer da sein, dachte sie.
    «Entschuldige mich», sagte Roger, als sie in das Studio eintraten, «aber ich mußte mit dir reden.»
    Ein Feuer von Eierbriketts glühte rot im Kamin. Die Vorhänge waren zugezogen, und Lampenschirme aus Pergament warfen ein bernsteinfarbenes Licht über die Negermasken und kleinen Antiquitäten. Alle diese Dinge schienen darauf zu warten, daß jemand sie anschaute, um vollkommen wirklich zu werden.
    «Sprich», sagte sie.
    «Wann soll das aufhören?» fragte er.
    «Was?»
    «Diese Geschichte mit dem Verrückten.»
    «Das wird gar nicht aufhören», sagte sie.
    «Was willst du damit sagen?»
    Sie blickte ihn an und erinnerte sich: das ist Roger, wir lieben uns, und ich darf ihm nicht weh tun. Aber diese Gedanken kamen ihr vor wie Erinnerungen an eine andere Welt.
    «Ich brauche ihn.»
    Roger setzte sich neben sie; er versuchte, ihr zuzureden: «Regine, du spielst dir selber eine Komödie vor. Du weißt doch, er ist ein Kranker.»
    «Du hast nicht diesen Schnitt in seiner Kehle gesehen», sagte sie.
    Roger zuckte die Achseln: «Und selbst wenn er unsterblich wäre?»
    «Dann würde in zehntausend Jahren noch einer an mich denken.»
    «Er würde dich vergessen.»
    «Er sagt, daß er ein unfehlbares Gedächtnis hat», sagte Regine.
    «Dann würdest du unter seinen Erinnerungen aufgespießt sein wie ein Schmetterling in einer Sammlung.»
    «Ich will, daß er mich liebt, wie er niemals geliebt hat und niemals lieben wird.»
    «Glaube mir», sagte Roger, «es ist besser, von einem Sterblichen geliebt zu werden, der nur dich liebt.» Seine Stimme bebte. «Du bist allein in meinem Herzen. Warum genügt dir meine Liebe nicht?»
    In der Tiefe von Rogers Augen erkannte sie ganz klein ihr Bild mit dem Pelzbarett auf dem blonden Haar: nichts anderes als der Reflex in einem Spiegel. «Nichts genügt mir», sagte sie.
    «Du liebst diesen Menschen doch nicht etwa?» fragte Roger.
    Er blickte sie angstvoll an. Sein einer Mundwinkel zitterte,und er sprach nur mit Mühe: er litt. Ein kleines, rührendes Leiden, das ganz weit von ihr im Nebel zu zucken schien. Eines Tages hat er mich geliebt, hat er gelitten und ist tot: nur ein Leben mehr. Sie war sich bewußt, daß sie in dem Augenblick, als sie ihre Garderobe verließ, einen Entschluß gefaßt hatte.
    «Ich will mit ihm leben», sagte sie.
     
    Einen Augenblick blieb Regine unbeweglich auf der Schwelle des Zimmers stehen; mit einem Blick umfaßte sie die roten Fenstervorhänge, Deckenbalken, das schmale Bett, die Möbel aus dunklem Holz, die Bücher auf den Regalen; dann schloß sie die Tür hinter sich und ging bis in die Mitte des Raums.
    «Ich frage mich, ob sich Fosca in diesem Zimmer wohl fühlen wird», sagte sie.
    Annie

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