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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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  April. Warum sich daran erinnern anstatt an etwas anderes? War denn nach drei Monaten die Vergangenheit weniger tot als nach vierhundert Jahren?
    «Wir sind auf die Straße hinuntergegangen», sagte ich. «Wir hatten gehört, Thiers habe von der Tribüne aus den Sieg des Aufstands in Lyon verkündigt. Da haben wir Barrikaden errichtet. Alles hat gesungen. Sie hatten sich auf dem Platz zusammengeschart, sie liefen durch die Straßen und riefen: ‹Tod dem Teufelssohn!› Sie sangen.»
    «Und dann?» fragte Armand.
    «Am Morgen hat die Truppe angegriffen. Sie haben die Barrikaden nur so abgemäht; sie sind in die Häuser eingedrungen und haben alles getötet, was ihnen in die Hände fiel.» Ich zuckte die Achseln. «Ich sagte Ihnen ja: es ist immer dasselbe!»
    Es entstand Schweigen zwischen uns. Schließlich sagte Armand: «Wieso haben Sie denn nicht gemerkt, daß es eine Falle war? Thiers wußte am Abend des 12.   April, daß der Aufstand niedergeworfen war. Und als er die Erhebung provoziert hatte, wurden alle Führer verhaftet, ich selber war es schon   …»
    «Hinterher haben wir das auch gehört», sagte ich.
    «Aber Sie haben doch Erfahrung, Sie hätten die Gefahr bemerken und den Aufstand verhindern sollen.»
    «Sie wollten hinunter auf die Straße, da bin ich mitgegangen.»
    Armand zuckte ungeduldig die Achseln: «Sie sind nicht dazu da, ihnen zu folgen, sondern sie aufzuklären.»
    «Aber ich kann auch nicht an ihrer Stelle weitblickend sein», sagte ich.
    Er sah mich mit gereizter Miene an.
    «Ich bin imstande zu tun, was man von mir verlangt», fuhr ich fort. «Aber wie könnte ich an ihrer Stelle entscheiden? Und wie kann ich wissen, was sie für sich selbst als gut oder schlecht empfinden?»
    Antonio war mit 20   Jahren gestorben, und er hatte gelacht; Garnier spähte erwartungsvoll nach seinem Tod aus, der um die Straßenecke kam; und Beatrice beugte über ihre Manuskripte ein trübes, verfettetes Gesicht. Sie selbst hatten zu entscheiden.
    «Haben Sie vielleicht geglaubt, die andern wünschten dies Blutvergießen?» fragte Armand in schneidendem Ton.
    «Ist es denn etwas so Schlimmes?» fragte ich zurück.
    Die Toten waren tot, die Lebenden lebten noch; die Gefangenen fanden ihr Gefängnis nicht unerträglich: sie waren von ihrer Alltagsarbeit befreit, sie konnten endlich lachen, plaudern, der Ruhe pflegen. Und sie hatten gesungen, ehe sie sterben mußten.
    «Ich fürchte, diese Gefängnismonate haben Sie angegriffen», sagte Armand.
    Ich heftete den Blick auf sein bleichgewordenes Gesicht: «Sind Sie nicht angegriffen?»
    «Im Gegenteil.»
    In seiner Stimme lag so viel Leidenschaft, daß sie durch den Nebel drang, hinter dem ich mich verbarg.
    Ich stand mit einer raschen Bewegung auf und machte ein paar Schritte.
    «Die ganze Organisation ist jetzt führerlos, nicht wahr?»
    «Ja. Durch unsere Schuld. Man darf nicht unter offenem Himmel seine Verschwörungen treiben. Es wird uns eine Lehre sein.»
    «Für wann?» fragte ich. «Sie werden euch zu zehn oder zwanzig Jahren verurteilen.»
    «In 20   Jahren werde ich erst 44   Jahre alt sein», sagte Armand. Ich blickte ihn an und sagte: «Ich beneide Sie.»
    «Warum?»
    «Sie werden sterben. Niemals werden Sie so sein wie ich.»
    «Ach! Ich wünschte, ich brauchte nicht zu sterben», sagte er. «Ja», sagte ich. «So habe ich auch einmal gesagt.»
    In meiner Hand hielt ich die Flasche mit dem grünlichen Trank und dachte: Wie vieles werde ich dann vollbringen können! Marianne ging mit raschen Schritten im Zimmer hin und her: «Ich habe so wenig Zeit vor mir.» Zum erstenmal dachte ich: Dies ist unser Kind.
    «Ich werde Sie hier herausbringen», sagte ich.
    «Und wie wollen Sie das machen?»
    «Es sind nachts nur zwei Wachen im Hof; sie sind beide bewaffnet; aber wenn man die Kugeln nicht fürchtet, kann man sie so lange ablenken, daß jemand, der geschickt ist, inzwischen die Mauer überklettern kann.»
    Armand schüttelte den Kopf: «Ich möchte jetzt nicht fort. Wir versprechen uns viel von dem Aufsehen, das unser Prozeß machen wird.»
    «Aber wir können von einem Tag zum andern getrennt werden», sagte ich. «Es ist für uns ein großer Glückszufall, daß wir uns hier getroffen haben. Nutzen Sie ihn rasch.»
    «Nein», sagte er. «Ich muß bleiben.»
    Ich zuckte die Achseln: «Auch Sie!»
    «Auch ich?»
    «Sie entscheiden sich für das Martyrium, genauso wie Garnier?»
    «Garnier hat sich für einen unnützen Tod entschieden, ich tadle ihn

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