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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nicht triumphiert.»
    Ich blickte ihn voller Erstaunen an. Ich selber hatte mir oft diese Dinge gesagt, aber nicht geglaubt, daß einer unter ihnen sie sich auch klargemacht habe.
    «Wozu dann dieser Aufstand?» fragte ich.
    «Wir dürfen nicht darauf warten, daß die Zukunft unseren Handlungen einen Sinn gibt; sonst wäre kein Handeln möglich. Wir müssen unseren Kampf führen, so wie wir es uns vorgenommen haben, weiter nichts.»
    Ich hielt die Tore Carmonas geschlossen und erwartete nichts.
    «Ich habe viel darüber nachgedacht», sagte er mit einem knappen Lächeln.
    «Eigentlich wollen Sie also sterben, weil Sie die Hoffnung verloren haben?»
    «Ich habe keine verloren, ich habe niemals Hoffnung gehabt.»
    «Kann man denn ohne Hoffnung leben?»
    «Ja, wenn man irgendeine Sicherheit besitzt.»
    Ich sagte: «Ich habe keine.»
    «In meinen Augen ist es eine große Sache, ein Mensch zu sein.»
    «Ein Mensch unter Menschen», sagte ich.
    «Ja», sagte er. «Das genügt. Das ist wert, daß man lebt; und sogar daß man stirbt.»
    «Sind Sie sicher, daß Ihre Kameraden auch so denken?»
    «Versuchen Sie nur einmal, sie zur Übergabe zu bewegen!» sagte er. «Zuviel Blut ist geflossen. Jetzt müssen wir unseren Kampf bis zu Ende führen.»
    «Aber sie wissen ja nicht, daß die Unterhandlungen gescheitert sind.»
    «Sagen Sie es ihnen nur», stieß er fast zornig hervor. «Es ist ihnen ganz egal; mir selber sind diese Unterhandlungen, Entscheidungen und Gegenentscheidungen vollkommen gleichgültig. Wir haben uns geschworen, die Vorstadt zu verteidigen, das werden wir tun, und damit basta!»
    «Euer Kampf wird nicht nur auf den Barrikaden geführt. Um ihn zu Ende zu führen, solltet ihr weiterleben.»
    Er stand auf und blickte, an den kümmerlichen Wall gelehnt, die verlassene Straße hinab. «Vielleicht fehlt es mir an Geduld dazu», sagte er.
    Rasch fiel ich ihm ins Wort: «Sie haben keine Geduld, weil Sie Angst vor dem Tode haben.»
    «Das ist wahr», sagte er.
    Er war auf einmal weit von mir fort. Seine Augen ruhten starr in dem Schlund jener Straße, aus dem der Tod heraufkommen würde, der Tod, den er erwählt. Der Scheiterhaufen flammte, der Wind verwehte die Asche der Augustiner: «Es gibt nur ein einziges Gut: nach seinem Gewissen zu handeln.» Auf seinem Lager ruhend, lächelte Antonio. Es war weder Hochmut noch Narrheit; soviel verstand ich jetzt. Sie waren Menschen, die ihr Menschengeschick erfüllen wollten, indem sie sich ihr Leben und ihren Tod selber wählten, sie waren freie Menschen.
    Garnier fiel bei der ersten Salve. Am Morgen war der Aufstand niedergeworfen.
     
    Armand saß auf dem Rand meines Bettes, und ich fühlte das Gewicht seiner Hand auf meiner Schulter, als er mir sein abgemagertes Gesicht zuwandte. «Erzählen Sie.»
    Seine Oberlippe war geschwollen, und an der Schläfe hatte er eine blutunterlaufene Stelle. Ich fragte ihn: «Ist es wahr, daß Sie mit Gewalt vor das Tribunal geschleppt werden?»
    «Es ist wahr. Ich werde Ihnen sagen   … Aber erzählen Sie erst.»
    Ich heftete meinen Blick auf die gelbe Lampe, die unter der Decke flackerte. Der Schlafraum war leer; man hörte den Lärm von aneinanderklingenden Gläsern, Lachen, festlich gehobene Stimmen: die Schweizer gaben den Arbeitern ein Bankett. Gleich würden die Gefangenen in den Schlafraum zurückkehren, überfüllt von Speise und Trank, von Freundschaft und von Lachen; sie würden sich hinter ihren Betten verbarrikadieren und Revolution spielen, und als Abendgebet würden sie die
‹Marseillaise›
kniend singen. Ich hatte mich an diese Riten gewöhnt und fühlte mich wohl in diesem Bett, den Blick auf die gelbe Lampe gerichtet, die von der Decke hing. Warum sollte ich wecken, was vergangen war?
    «Es ist immer dasselbe», sagte ich.
    «Wieso?»
    Ich schloß die Augen; mit Anstrengung versenkte ich mich in jene weite, wirre Nacht, die sich unabsehbar hinter mir erstreckte. Blut, Feuer, Tränen, Lieder. Im Galopp waren sie in die Stadt hineingestürmt, sie hatten brennende Fackeln in die Häuser geworfen, ihre Pferde hatten die Schädel von Kindern zermalmt und die Brüste von Frauen, an ihren Hufen war lauter Blut; ein Hund heulte seine Totenklage.
    «Frauen werden erwürgt und Kinderschädel an den Mauern zerschmettert; das Pflaster wird rot von Blut, und da, wo Lebende waren, liegen nur Leichen umher.»
    «Aber was hat sich am 13.   April in der Rue Transnonain zugetragen? Das möchte ich gern wissen.»
    Rue Transnonain, am 13.

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