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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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versuchte, in mir ein Echo, ein Erinnern zu finden; aber alles blieb dürr und leer.
    «Warum nicht?»
    «Sie haben Angst.»
    «Carrel wagt es nicht», sagte Spinelli. «Er sagt, das Volk kann nichts ausrichten, wenn es einem regierungstreuen Regiment gegenübersteht.» Seine Stimme erstickte. «Und dabei würde die Truppe zu uns übergehen, wenn sich Carrel für uns ausgesprochen hätte.»
    «Sie fürchten nicht die Niederlage», fuhr Armand weiter fort. «Sie haben Angst vor dem Sieg, Angst vor dem Volk. Sie sagen, daß sie Republikaner seien; aber die Republik, die sie sich wünschen, würde nicht anders aussehen als diese abgelebte Monarchie. Louis-Philippe ist ihnen lieber als das Regime, das wir wollen.»
    «Ist wirklich keine Hoffnung?» fragte ich.
    «Wir haben mehr als zwei Stunden hin und her geredet. Alles ist verloren. Mit La Fayette, mit der Truppe wären wir Sieger gewesen. Aber wir können nicht gegen die Armeen kämpfen, die auf Paris marschieren.»
    «Was werdet ihr nun tun?»
    Sie schwiegen; dann sagte Spinelli: «Wir haben halb Paris in der Hand.»
    «Gar nichts haben wir», rief Armand. «Unsere Sache hat keine Führer, sie verleugnet sich selbst. Alle, die sich jetzt noch dafür totschießen lassen, sterben umsonst. Es bleibt gar nichts übrig, als das Blutvergießen aufzuhalten.»
    «Dann gehe ich also zu Garnier und sage ihm, er soll sofort die Waffen niederlegen», schlug Spinelli vor.
    «Das wird Fosca tun. Er kommt besser durch als du.»
    Es war jetzt sechs Uhr abends; es dunkelte bereits. An allen Straßenecken standen Municipalgarden und Soldaten. Frische Regimenter waren angekommen, sie griffen machtvoll die Barrikaden an. Leichen lagen umher, und man sah Männer Bahren tragen, auf denen Verwundete lagen; rote Lachen standen auf dem Fahrdamm. Der Aufstand begann abzuflauen; seit Stunden schon hatte das Volk kein Wort der Ermutigung mehr gehört, es wußte nicht mehr recht, wofür es sich eigentlich schlug. Viele Straßen, die vorher in den Händen der Aufständischen gewesen waren, wimmelten jetzt von roten Uniformen. Von weitem konnte ich sehen, daß die von Garnier verteidigte Barrikade noch stand; durch die Kugeln hindurch lief ich hin, sie pfiffen von überallheran meinen Ohren vorbei. Garnier stand an die Säcke gelehnt, ein blutiger Verband lag um seine nackte Schulter, sein Gesicht war von Pulver geschwärzt.
    «Was gibt es Neues?»
    «Sie sind zu keiner Verständigung gekommen», sagte ich.
    «Das dachte ich mir», gab er gleichgültig zurück.
    Ich war über seine Ruhe erstaunt, beinahe lächelte er.
    «Die Truppe geht nicht mit uns. Es gibt keine Hoffnung mehr auf Sieg. Armand bittet euch, den Kampf jetzt einzustellen.»
    «Den Kampf einzustellen?» Diesmal lächelte er wirklich. «Sehen Sie uns mal an.»
    Ich sah hin. Nur noch eine Handvoll Leute war übriggeblieben um Garnier; ihre Gesichter waren von Blut und Ruß bedeckt; alle waren verwundet. Längs der Mauer waren Leichen mit nacktem Oberkörper aufgereiht; sie hatten ihnen die Augen zugedrückt und die Hände über der Brust gekreuzt.
    «Sie haben nicht vielleicht ein reines Taschentuch?»
    Ich zog eines aus der Tasche; Garnier wischte sich sein geschwärztes Antlitz und seine Hände damit ab.
    «Danke.»
    Seine Augen ruhten auf mir, er schien erstaunt, mich vor sich zu sehen. «Aber Sie sind ja verletzt.»
    «Nur ein paar Schrammen», sagte ich.
    Wir schwiegen beide. Dann sagte ich: «Sie werden sich wegen nichts totschießen lassen.»
    Er zuckte die Achseln: «Hat es denn jemals einen Zweck, wenn man sich töten läßt? Was ist ein Leben schon wert?»
    «Ach! Das denken Sie?» sagte ich.
    «Und Sie etwa nicht?»
    Ich zögerte. Aber ich hatte mich jetzt gewöhnt, niemals zu sagen, was ich dachte: «Es scheint mir, daß man doch manchmal etwas Nützliches erreicht.»
    «Meinen Sie?» sagte Garnier. Er schwieg einen Augenblick, und auf einmal löste sich etwas in ihm. «Nehmen wir einmal an, die Verhandlungen hätten zu etwas geführt, glauben Sie, unser Sieg wäre von Nutzen gewesen? Haben Sie daran gedacht, welche Aufgaben die Republik vor sich gehabt hätte: die Gesellschaft umzuschmelzen, die Partei zu zügeln, das Volk zufriedenzustellen, die herrschende Klasse zu unterwerfen; und außerdem noch das ganze Europa zu besiegen, denn es würde sich auf der Stelle gegen uns gewendet haben. Zu alldem sind wir nur eine Minderheit und ohne politische Erfahrung. Vielleicht ist es ein Glück für die Republik, daß sie heute

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