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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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konnte, war, eine Zeitlang schwimmen zu können, bevor man in Schaum verging.
    «Kommen Sie», sagte sie.
    Er kletterte über die Holzschranke hinweg, und sie legte die Hand auf seinen Arm.
    «Hier bin ich geboren», sagte sie. «In diesem Zimmer wohnte ich, über dem Lorbeerboskett. Bis in den Schlaf hinein hörte ich Springbrunnen rauschen, und der Magnolienduft kam durch das Fenster herein.»
    Sie setzten sich auf eine Stufe der Eingangstreppe; die Steine waren warm, und Insekten summten. Während Regine sprach, bevölkerte sich der Park mit geisterhaften Gestalten. Ein kleines Mädchen schritt in einem langen Kleid durch kiesbestreute Alleen; eine magere Halbwüchsige deklamierte Camillas beschwörende Bitten im Schatten der Trauerweide. Die Sonne senkte sich am Himmel, und immer noch sprach Regine, voller Verlangen danach, die kleinen, wesenlosen Toten noch einmal aufzuerwecken, in denen einst ihr eigenes Herz geschlagen hatte.
    Als sie endlich schwieg, war es beinahe Nacht. Sie sah Fosca an.
    «Fosca, haben Sie zugehört?»
    «Aber sicherlich.»
    «Werden Sie alles behalten?»
    Er zuckte die Achseln: «Das ist eine Geschichte, die ich so oft gehört habe.»
    Sie sprang fast heftig auf: «Nein», sagte sie. «Nein. Es ist nicht dieselbe Geschichte.»
    «Dieselbe, die einzige.»
    «Das ist nicht wahr.»
    «Immer dasselbe Streben, dasselbe Scheitern», sagte er müde. «Einer nach dem andern fängt immer wieder an. Und ich fange auch wieder an wie die andern. Niemals wird es enden.»
    «Aber ich bin anders», sagte sie. «Wenn ich nicht anders wäre, wie könnten Sie mich dann lieben? Sie lieben mich doch, nicht wahr?»
    «Ja», sagte er.
    «Und ich bin einmalig für Sie.»
    «Ja», sagte er. «So einmalig wie alle Frauen.»
    «Aber ich bin ich, Fosca! Sehen Sie mich nicht mehr?»
    «Ich sehe Sie. Sie sind blond, hochgemut, voller Ehrgeiz, und Ihnen graut vor dem Tode.» Er schüttelte den Kopf. «Arme Regine!» sagte er.
    «Bedauern Sie mich nicht!» rief sie aus. «Ich verbiete Ihnen, Mitleid mit mir zu haben.»
    Hastig enteilte sie.
     
    «Ich muß jetzt gehen», sagte Regine.
    Müde blickte sie auf die Ausgangstür der Bar. Hinter der Tür lag eine Straße, die zur Seine führte, und auf dem anderen Ufer war ihr Studio gelegen; dort saß Fosca am Tisch und schrieb nicht. Ist die Probe gutgegangen? würde er fragen. Sie würde antworten: Ja, und dann würde sie schweigen.
    Sie streckte Flora die Hand hin: «Auf Wiedersehen.»
    «Trinken Sie doch noch einen Porto», sagte Sanier, «Sie haben doch noch Zeit.»
    «Zeit», sagte sie. «Ich habe massenhaft Zeit.»
    Fosca pflegte nicht auf die Uhr zu schauen.
    «Es tut mir leid, daß die Probe so schlecht war.»
    «Oh, es ist herrlich, Sie arbeiten zu sehen», sagte Flora.
    «Sie haben erstaunliche neue Einfälle gehabt», bemerkte Sanier noch.
    Sie sprachen mit sanfter Stimme, schoben ihr den Teller mit den Brötchen zu, boten ihr mit weichen Bewegungen Zigaretten an, und in ihren Augen stand Beflissenheit. Sie grollen mir nicht mehr, dachte sie. Aber sie fühlte in ihremHerzen nicht das muntere Knistern der Verachtung; sie konnte niemanden mehr verachten.
    «Ist es wirklich entschieden? Ihr wollt Freitag reisen?» fragte sie.
    «Ja, Gott sei Dank», sagte Flora. «Ich bin am Ende.»
    «Das ist deine Schuld», meinte Sanier mit sanftem Vorwurf in der Stimme. Er sah Regine an. «Sie schont sich im Leben genausowenig wie auf der Bühne.»
    Regine lächelte verständnisvoll. Er sieht sie an, wie Roger mich angesehen hat, dachte sie. Er machte sich ein Bild von Floras Müdigkeit, er teilte ihre Freuden, ihre Kümmernisse, er gab ihr seinen Rat, sie lebte in seinem Herzen: ein Paar. Regine stand auf.
    «Jetzt muß ich aufbrechen», sagte sie.
    Sie war nicht gemacht für dies Lächeln, dies zärtliche Geplausche, das schlichte menschliche Einvernehmen. Sie drückte die Tür auf und tauchte unter in ihre Einsamkeit. Allein ging sie über die Seinebrücke auf die rötlich schimmernde Wohnung zu. Aber es war nicht mehr die stolze Einsamkeit von einst. Sie war nur eine Frau, die sich unter dem Himmel verloren fühlte.
     
    Annie war ausgegangen, Foscas Tür geschlossen. Regine zog die Handschuhe aus und stand regungslos da. Der große Tisch, die Vorhänge, die Sächelchen in den Regalen, alles sah aus, als schliefe es. Man hätte meinen können, es sei eine Leiche im Hause, und die verschüchterten Dinge wagten kaum da zu sein. Zögernd machte sie ein paar Schritte: niemand

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