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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sah mißgestimmt aus. In der letzten Zeit war er häufig mißgestimmt.
    Schweigend stiegen sie aus dem Zug, durchschritten die Sperre des kleinen Bahnhofs und befanden sich auf der Landstraße. Fosca ging mit gesenktem Kopf und stieß einen kleinen Kiesel mit dem Fuß vor sich her. Regine nahm seinen Arm.
    «Sehen Sie», sagte sie. «In diesem Winkel habe ich meine Kindheit verbracht, und ich liebe ihn. Sie müssen ihn sich genau ansehen.»
    Schwertlilien blühten auf den Strohdächern; Rosen kletterten an den Wänden der niederen Häuser empor; auf den mit Holz eingezäunten Grasflächen scharrten Hühner unter blühenden Apfelbäumen. In Regines Herzen ging die Vergangenheit auf wie ein Blumenstrauß, den man ins Wasser stellt: Pfauenfeder, Glyziniengirlanden, der Duft von Phlox im Garten bei Mondschein und leidenschaftliche Tränen: ich will schön werden und berühmt. Weiter unten, tief eingebettet in grüne Weizenfelder, lag ein Dorf, dessen Schindeldächer rings um die Kirche herum in der Sonne glänzten; dieGlocken läuteten. Ein Pferd kam die Steigung herauf, es zog einen Bauernkarren, ein Bauer ging neben ihm her, die Peitsche in der Hand.
    «Nichts hat sich geändert», sagte Regine. «Welcher Friede! Sehen Sie, Fosca, für mich ist dies die Ewigkeit: diese friedlichen Häuser, der Klang der Glocken, die läuten werden bis ans Ende der Zeiten, das alte Pferd, das die Straße heraufgetrottet kommt wie sein Großvater in meiner Kinderzeit.»
    Fosca schüttelte den Kopf. «Nein   … Das ist nicht die Ewigkeit.»
    «Warum nicht?»
    «Es wird nicht immer Dörfer geben, nicht immer Bauernkarren, nicht immer alte Pferde.»
    «Das ist wahr», sagte sie bewegt.
    Mit einem Blick umfaßte sie die Landschaft, die unbeweglich unter dem blauen Himmel lag, unbeweglich wie ein Bild, ein Gedicht.
    «Was wird statt dessen sein?»
    «Vielleicht großzügige Bodenkulturen mit Traktoren und geometrisch eingeteilten Feldern; vielleicht eine neue Stadt mit Werkstätten, mit Fabriken   …»
    «Fabriken   …»
    Das war unvorstellbar. Nur eines war gewiß: daß diese alte Landschaft, die älter war als irgendeines Menschen Erinnerung, eines Tages verschwinden würde. Regines Herz krampfte sich zusammen. An einer regungslosen Ewigkeit hätte sie teilhaben können, aber auf einmal war diese Welt nichts mehr als ein Vorbeiziehen sich jagender Visionen, und ihre Hände blieben leer. Sie blickte Fosca an. Wessen Hände konnten leerer sein als die seinen?
    «Ich glaube, ich fange zu verstehen an», sagte sie.
    «Was?»
    «Den Fluch.»
    Sie gingen Seite an Seite, aber jeder war allein: Wie kann ich ihn dazu bringen, die Welt mit meinen Augen zu sehen?   … Sie hatte sich nicht vorgestellt, daß das so schwer sein würde; es schien ihr, daß er, anstatt ihr näher zu kommen, sich von Tag zu Tag immer weiter entfernte.
    Sie wies zur Rechten auf eine Allee mit großen, schattigen Eichen: «Da ist es.»
    Gerührt erkannte sie die blühenden Wiesen wieder, die Stacheldrahtzäune, unter denen sie auf dem Bauch hindurchgekrochen war, den Fischteich, grün vermoost; alles war da, so nahe: ihre Kindheit, die Abreise nach Paris, die verklärte Heimkehr. Langsam machte sie einen Rundgang durch den Park, den weiße Latten umzäunten. Die Pforte war zugesperrt, die Schranke herabgelassen. Sie sprang über die Barriere hinweg: Eine einzige Kindheit, ein einziges Leben, mein Leben. Für sie würde die Zeit eines Tages stillstehen, sie tat es heute schon, sie zerbrach an der undurchdringlichen Mauer des Todes: Regines Leben war ein großer See, in dem die Welt sich widerspiegelte in reinen, festen Bildern. Ewig erschauerte die Rotbuche im Wind, hauchte der Phlox seine süßen Düfte aus, murmelte der Fluß, und im Rauschen der Blätter, im Blau der großen Zedern, in dem Duft der Ströme war das Weltall beschlossen.
    Noch war es Zeit. Sie brauchte nur Fosca zuzurufen: Laß mich allein. Allein mit meinen Erinnerungen und meinem kurzen Geschick, ergeben in das Los, nur ich selber zu sein und eines Tages zu sterben. Einen Augenblick lang stand sie unbeweglich vor dem Haus mit den geschlossenen Läden: allein, sterblich und ewig. Und dann wandte sie die Augen zu ihm. Er hatte sich auf die weiße Barriere gelehnt, schaute die Buche, die Zedern an mit jenem Blick, der nie erlöschen würde, und von neuem floh die Zeit zum Unendlichen hin, und Bilder verschwammen. Regine wurde vom Strom erfaßt, es gab kein Halten mehr; das einzige, was man nochwünschen

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