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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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erwartete irgendeine Geste von ihr. Sie nahm ihre Zigaretten aus der Handtasche und steckte sie wieder ein; sie hatte keine Lust zu rauchen, sie hatte zu gar nichts Lust. Im Spiegel schlief selbst ihr Gesicht. Sie befestigte eine Haarsträhne, dann ging sie auf Foscas Zimmer zu und klopfte an die Tür.
    «Herein.»
    Er saß auf dem Rand seines Bettes und strickte mit einer Miene verbissenen Eifers an einem langen Schal aus grüner Wolle.
    «Ist die Arbeit gutgegangen?» fragte er.
    «Sehr schlecht», gab sie zurück.
    Beruhigend meinte er: «Morgen wird es bessergehen.»
    «Nein», sagte sie.
    «Aber schließlich wird es bessergehen.»
    Sie zuckte die Achseln.
    «Sie könnten nicht einen Augenblick diese Arbeit aus der Hand legen?»
    «Wenn Sie wollen.»
    Er legte mit sichtlichem Bedauern den Wollstreifen neben sich.
    «Was haben Sie gemacht?» fragte sie.
    «Sie sehen ja.»
    «Und das Stück, das Sie mir versprochen haben?»
    «Ach, dieses Stück!   …» In entschuldigendem Ton fügte er hinzu: «Ich hatte gehofft, es würde alles anders werden.»
    «Was denn? Wer hindert Sie, zu arbeiten?»
    «Ich kann nicht.»
    «Sie wollen nicht.»
    «Ich kann nicht. Ich hätte Ihnen gern geholfen, aber ich kann nicht. Was habe ich den Menschen zu sagen?»
    «Es ist doch nicht so schwierig, ein Stück zu schreiben», rief sie ungeduldig.
    «Ihnen scheint das natürlich, weil Sie zu ihnen gehören.»
    «Versuchen Sie es doch mal. Sie haben ja noch kein Wort zu Papier gebracht.»
    «Ich versuche es», sagte er. «Manchmal kommt ein Augenblick, wo eine meiner Personen zu atmen anfängt; doch dann erlischt sie gleich wieder. Sie werden geboren, leben, sterben, weiter habe ich nichts über sie zu sagen.»
    «Aber Sie haben doch Frauen geliebt», warf sie ein. «Und Männer sind Ihre Freunde gewesen.»
    «Ja, ich habe Erinnerungen», sagte er. «Aber das ist nicht genug.» Er schloß die Augen. Er schien verzweifelt nach irgendeiner Erinnerung zu suchen. «Man braucht viel Kraft», sagte er, «viel Stolz oder sehr viel Liebe, um zu glauben, daß die Handlungen eines Menschen wichtig sind oder daß das Leben stärker ist als der Tod.»
    Sie trat näher zu ihm. Ihre Kehle war zugeschnürt, sie hatte vor seiner Antwort Angst.
    «Fosca, hat mein Geschick in Ihren Augen wirklich keine Wichtigkeit?»
    «Ach, diese Frage sollten Sie mir nicht stellen», sagte er.
    «Warum nicht?»
    «Sie sollten sich keine Gedanken machen über meine Gedanken. Das ist eine Schwäche.»
    «Eine Schwäche», sagte sie. «Würde es mutiger sein, Ihnen zu entfliehen?»
    «Ich habe einen Mann gekannt», sagte Fosca. «Er floh nicht; er sah mich an, und er hörte mir zu. Aber er faßte seine Entschlüsse ganz für sich allein.»
    «Sie sprechen mit großer Achtung von ihm», sagte sie.
    Sie fühlte etwas wie Eifersucht auf diesen Unbekannten.
    «War er nicht auch ein armer Mensch, der sich vergeblich mühte zu existieren?»
    «Er tat», sagte Fosca, «was er tun wollte, und er erhoffte nichts.»
    «Ist es denn wichtig, daß man tut, was man will?» fragte sie.
    «Für ihn war es wichtig.»
    «Und für Sie?»
    «Er nahm keine Rücksicht auf mich.»
    «Aber hatte er recht oder unrecht damit?»
    «Ich kann nicht für ihn antworten.»
    «Es scheint fast, als bewunderten Sie ihn.»
    Er schüttelte den Kopf. «Dazu bin ich nicht imstande.»
    Regine machte ein paar Schritte quer durch das Zimmer, sie fühlte sich rat- und hilflos vor ihm.
    «Und ich?» fragte sie.
    «Sie?»
    «Ich bin in Ihren Augen eine arme Kreatur?»
    «Sie denken zuviel über sich nach», sagte er. «Das tut Ihnen nicht gut.»
    «Woran sollte ich denn denken?» fragte sie.
    «Ach, ich weiß nicht», sagte er.
     
    Regine kam von der Bühne herab; Fosca saß im Dunkeln, ganz hinten im leeren Zuschauerraum; sie ging auf ihn zu. Jemand rief sie im Vorbeigehen an: «Regine.»
    Sie wandte sich um: es war Roger.
    «Du bist doch nicht böse, daß ich gekommen bin?» fragte er. «Laforêt hat mich eingeladen zu kommen, und es lag mir soviel daran, deine Berenike gleich zu sehen   …»
    «Warum sollte ich böse sein?» fragte sie.
    Sie sah ihn mit Erstaunen an. Sie hatte sich vorgestellt, daß dies Wiedersehen sie bewegen würde: früher hatte alles, was seine Vergangenheit betraf, sie aufs tiefste erregt. Aber jetzt kam er ihr altbekannt und völlig gleichgültig vor.
    «Regine», sagte er, «du bist fabelhaft als Berenike. Du bist als Tragödin ebenso gut wie in einem Lustspiel. Jetzt bin ich sicher,

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