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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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wenigstens diesen Augenblick wirklich werden zu lassen.
    «Ich dachte, Sie verachten mich», sagte sie.
    «Ich?»
    «Ja. Als ich zu Ihnen über Mauscot und Flora geredet habe   … das war doch gemein von mir   …»
    «Ich glaube nicht, daß irgendeine Ihrer Handlungen gemein sein könnte.»
    Sie lächelte. Eine neue Flamme brach in ihr auf: Wenn ich wollte   … Sie verspürte Lust, sich in diesem kompromißlosen, leidenschaftlichen Herzen brennen zu fühlen.
    «Ich habe immer geglaubt, Sie urteilten streng über mich.»
    «Da haben Sie sich getäuscht.»
    Sie sah ihm gerade ins Gesicht: «Was denken Sie eigentlich von mir?»
    Er zögerte: «Es ist um Sie etwas Tragisches.»
    «Was?»
    «Ihr Hang zum Absoluten. Sie sind dazu geschaffen, an Gott zu glauben und ins Kloster zu gehen.»
    «Es gibt zu viele Erwählte», sagte sie. «Zu viele Heilige. Dazu würde nötig sein, daß Gott nur mich allein liebte.»
    Mit einem Schlag war die Flamme ausgelöscht. Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt, er beobachtete sie. Er sah, wie sie Sanier anblickte und wie sie selber dessen Blick auf sich ruhen fühlte und wie sie darum bemüht war, in seinem Herzen zu brennen; er sah das Hin und Her der Worte und Blicke, das Spiel der Spiegel, die leeren Spiegel, die sich gegenseitig ihre Leere enthüllten. Fast heftig streckte sie die Hand nach einem Sektglas aus.
    «Ich habe Durst», sagte sie.
    Sie leerte das Glas und füllte es wiederum. Roger hätte jetzt gesagt «Trinke nicht», und sie hätte getrunken und Zigaretten geraucht, und ihr Kopf wäre schwer vor Überdrußgeworden, vor Auflehnung und von dem Lärm. Aber er sagte nichts, er spähte, er dachte gewiß: Sie versucht, sie versucht. Er hatte recht: Sie versuchte; sie spielte Hausherrin, sie spielte berühmt, sie spielte die große Verführerin, alles war nur ein Spiel: das Spiel der Existenz.
    «Sie amüsieren sich offenbar gut!» sagte sie.
    «Die Zeit geht hin», sagte er.
    «Sie können sich über mich lustig machen. Aber Sie machen mir keine Angst!»
    Sie sah ihn herausfordernd an. Trotz ihm, trotz seinem mitleidsvollen Lächeln wollte sie noch einmal ihr Leben brennen fühlen; sie konnte sich die Kleider abreißen und nackt tanzen, sie konnte Flora ermorden: was hinterher kam, zählte nicht. Wäre es nur für Minuten, wäre es auch nur sekundenlang: sie würde die Flamme sein, die diese Nacht zerreißt. Sie fing zu lachen an. Wenn sie in einem Augenblick Vergangenheit und Zukunft zerstörte, so könnte sie sicher sein, daß dieser Augenblick existierte. Sie sprang auf das Sofa, hob ihr Glas und sagte mit lauter Stimme:
    «Meine lieben Freunde   …»
    Alle Gesichter wandten sich ihr zu.
    «…   Der Augenblick ist gekommen, wo ich euch sagen muß, weshalb ich euch heute abend hier bei mir vereinigt habe. Es war nicht, um die Unterzeichnung des
‹Sturm›
-Kontraktes zu feiern   …»
    Sie lächelte Dulac zu.
    «Verzeihen Sie, Monsieur Dulac, aber ich unterzeichne nicht.»
    Dulacs Gesicht wurde ernst, und sie lächelte triumphierend, alle blickten verdutzt.
    «Ich werde diesen Film nicht drehen, überhaupt keinen Film. Ich gebe die Berenike auf. Ich ziehe mich vom Theater zurück. Ich trinke auf das Ende meiner Laufbahn.»
    Eine Minute, nur eine Minute lang. Sie existierte. Allesahen sie an, ohne zu verstehen, und alle hatten sie etwas wie Angst; sie war der Blitz, der Gießbach, die Lawine, der Abgrund, der sich plötzlich zu ihren Füßen öffnete, aus dem die Angst aufstieg. Sie existierte.
    «Regine, Sie werden ja vollends verrückt», rief Annie.
    Alle sprachen auf einmal: Warum? Ist es denn möglich? Es ist doch nicht wahr. Und Annie hängte sich mit verstörter Miene an ihren Arm.
    «Trinkt mit mir», rief Regine. «Trinkt auf das Ende meiner Karriere.»
    Sie trank und fing laut zu lachen an.
    «Ein Ende in Schönheit.»
    Sie blickte zu ihm hin, sie bot ihm mit Blicken Trotz: sie brannte, sie existierte. Sie ließ die Hand herunterfallen, das Glas zerschellte am Boden. Er lächelte, und sie fühlte sich bis auf die Knochen nackt. Er riß ihr alle Masken ab, ihre Bewegungen, Worte und ihr Lächeln selbst; sie war nur dies Flügelschlagen inmitten einer Leere. Sie versucht, sie versucht. Und er sah auch, für wen sie versuchte: hinter den Worten, Gebärden, dem Lächeln, überall nur der gleiche Betrug, nur die gleiche Leere.
    «Ach!» rief sie lachend aus. «Was für eine Komödie!»
    «Regine, du hast zuviel getrunken», sagte Sanier beschwichtigend.

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