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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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«Komm und ruhe dich aus.»
    «Ich habe nicht getrunken», rief sie ihm heiter zu. «Ich bin vollkommen klar.» Sie zeigte mit dem Finger auf Fosca und lachte unaufhörlich dabei. «Ich sehe mit seinen Augen.»
    Ihr Lachen brach plötzlich ab. Mit seinen Augen durchschaute sie diese neue Komödie, die Komödie des illusionslosen Lachens, der hoffnungslosen Worte. Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Alles war heruntergebrannt. Um sie her war Schweigen.
    «Kommen Sie, ruhen Sie sich aus», redete Annie ihr zu.
    «Kommen Sie», sagte Sanier.
    Regine folgte ihnen.
    «Schicke sie nach Hause», sagte sie zu Annie. «Schicke sie alle fort.» Und zornig fügte sie hinzu: «Und ihr beide laßt mich auch allein!»
    Sie blieb unbeweglich mitten im Zimmer stehen, und dann drehte sie sich wie irre um sich selbst; sie blickte die Negermasken an den Wänden an, die kleinen Figuren auf dem Tisch, die alten Marionetten in ihrem Theaterchen: meine ganze Vergangenheit, die lange Liebe zu mir selbst steckt in all diesen Dingen. Und doch ist alles nur feiler Tand! Sie warf die Masken zu Boden.
    «Feiler Tand!» wiederholte sie laut und trat darauf herum. Sie warf die Figürchen, die Marionetten hin und zertrat auch sie; sie mordete alle Lügen.
    Jemand faßte sie an der Schulter an.
    «Regine», sagte Fosca. «Was soll das alles heißen?»
    «Ich will keine Lügen mehr», sagte sie.
    Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie war furchtbar müde.
    «Ich bin eine Lüge», sagte sie.
    Lange schwiegen beide.
    «Ich werde fortgehen», sagte er dann.
    «Fortgehen? Und wohin?»
    «Weit von Ihnen fort. Sie werden mich vergessen und wieder leben können.»
    Entsetzt blickte sie ihn an. Sie selber war nichts mehr. Er mußte bei ihr bleiben.
    «Nein», sagte sie. «Es ist zu spät. Ich werde nie mehr vergessen, nichts mehr vergessen können.»
    «Arme Regine! Was tun?»
    «Man kann nichts tun. Gehen Sie nicht fort.»
    «Gut. Ich werde nicht gehen.»
    «Niemals», sagte sie. «Sie dürfen mich nie verlassen.»
    Sie warf die Arme um seinen Hals, sie drückte die Lippenauf seine Lippen und schob ihre Zunge in seinen Mund. Foscas Hände umfaßten sie, und sie erschauerte. Früher, bei anderen Männern, fühlte sie wohl die Liebkosungen, aber nicht die Hände; doch Foscas Hände waren da, und Regine fühlte sich nur wie eine Beute darin. Fieberhaft warf er die Kleider von sich, als habe selbst er zu wenig Zeit, als sei jede Sekunde zu einem Schatz geworden, der nicht verspielt werden durfte. Er umfing sie, ein Feuerwind erhob sich in ihr und fegte die Worte und die Bilder alle hinweg: auf diesem Bett war nichts als tiefes schwarzes Erschauern. Es war in ihr, sie war nur die Beute für dieses große Verlangen, das alt wie die Erde war, dies wilde und neue Verlangen, das sie nur stillen konnte, das kein Verlangen nach ihr war, sondern Verlangen nach allem: sie war selbst dies Verlangen, diese brennende Leere, diese gesättigte Abwesenheit, alles, alles war sie. Der Augenblick flammte auf, die Ewigkeit war besiegt. Gespannt, verkrampft in leidenschaftlicher Erwartung und Angst, atmete sie im gleichen keuchenden Rhythmus mit ihm. Er stöhnte, und sie preßte ihm die Nägel ins Fleisch, zerrissen vom Triumph der letzten Steigerung, die ohne Hoffnung war, in der sich alles vollendete und auch schon vernichtete: dem brennenden Frieden des Schweigens entrissen, ganz auf sich selber geworfen, unnütz, verraten lag sie da. Sie strich sich mit der Hand über die feuchte Stirn, ihre Zähne schlugen aufeinander.
    «Regine», sagte er sanft. Er küßte ihr das Haar, er streichelte ihr die Wangen. «Schlafe», sagte er. «Uns ist der Schlaf erlaubt.»
    In seiner Stimme war so viel Traurigkeit, daß sie die Augen öffnen und zu ihm sprechen wollte: gab es kein Mittel dagegen? Aber er las zu schnell in ihr, und sie erriet in ihm zu viele andere Nächte, zu viele andere Frauen. Sie wandte sich um und preßte ihr Gesicht in die Kissen.
    Als Regine die Augen wieder aufschlug, war es heller Tag.Sie streckte den Arm über das Bett hin aus. Niemand war neben ihr.
    «Annie!» rief sie.
    «Regine?»
    «Wo ist Fosca?»
    «Ausgegangen», sagte Annie.
    «Ausgegangen? Zu dieser Zeit? Wo ist er denn hin?»
    Annie blickte zur Seite. «Er hat eine Nachricht für Sie dagelassen.»
    Sie griff danach; es war nur ein einmal gefaltetes Stück Papier:
    LEB WOHL, LIEBE REGINE, VERGISS, DASS ES MICH GIBT. DU NUR EXISTIERST, UND ICH ZÄHLE

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