Alle Menschen sind sterblich
NICHT.
«Wo ist er?» fragte sie. Sie sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. «Das ist unmöglich! Ich habe ihm gesagt, daß er nicht fortgehen soll.»
«Er ist heute nacht schon fort», sagte Annie.
«Und warum hast du ihn gehen lassen? Warum hast du mich nicht geweckt?» sagte Regine und packte Annie am Arm. «Sag, bist du von Sinnen? Warum?»
«Ich wußte nicht.»
«Was wußtest du nicht? Er hat dir dies Blatt übergeben, du hast gelesen, was darin steht?» Sie blickte Annie wütend an. «Du hast ihn mit Absicht gehen lassen; du wußtest es und hast ihn gehen lassen. Du infame Person, du.»
«Ja», sagte Annie. «Es ist wahr. Er mußte gehen: es ist besser für Sie.»
«Besser für mich!» rief Regine aus. «Ach, ihr habt euch da schön zusammen ausgedacht, was für mich besser ist!» Sie packte Annie und schüttelte sie. «Wo ist er?»
«Ich weiß es nicht!»
«Du weißt nicht!»
Regine blickte Annie fest an; sie dachte: Wenn sie es nichtweiß, bleibt mir nichts als der Tod. Mit einem Sprung war sie am Fenster.
«Sage mir, wo er ist, oder ich springe hinaus.»
«Regine!»
«Rühr dich nicht, oder ich springe. Wo ist Fosca?»
«In Lyon, in dem Gasthof, wo Sie drei Tage zusammen waren.»
«Ist das auch wahr?» fragte Regine mißtrauisch. «Warum sollte er dir das erzählt haben?»
«Ich habe es wissen wollen», sagte Annie. «Ich … ich hatte Angst vor Ihnen.»
«Er hat dich also um Rat gefragt!» sagte Regine. Sie streifte den Mantel über. «Ich gehe ihn suchen.»
«Ich werde statt Ihrer gehen», sagte Annie. «Sie müssen heute abend im Theater sein …»
«Ich habe gestern gesagt, daß ich das Theater aufgebe.»
«Aber da hatten Sie ja getrunken. Lassen Sie mich gehen. Ich verspreche Ihnen, daß ich ihn wiederbringe.»
«Ich will ihn selbst wiederbringen», sagte Regine. Sie ging zur Tür hinaus. «Und wenn ich ihn nicht finde, siehst du mich niemals wieder.»
Fosca saß an einem kleinen Tisch auf der Gasthausterrasse; er hatte eine Flasche Weißwein neben sich stehen; er rauchte. Als er Regine bemerkte, schien er nicht weiter erstaunt zu sein.
«Ah! Da sind Sie ja schon», sagte er lächelnd. «Diese arme Annie. Sie hat nicht lange dichtgehalten.»
«Fosca», sagte sie. «Warum sind Sie gegangen?»
«Annie hat mich gebeten.»
«Sie hat Sie gebeten!»
Regine setzte sich Fosca gegenüber hin.
«Ich aber», sagte sie zornig, «hatte Sie gebeten, immer bei mir zu bleiben.»
Er lächelte: «Und warum hätte ich gerade Ihnen gehorchen sollen?»
Regine goß sich ein Glas Wein ein und trank es gierig aus; ihre Hände zitterten.
«Lieben Sie mich nicht mehr?» sagte sie.
«Ich liebe auch Annie», sagte er sanft.
«Aber doch nicht auf dieselbe Weise.»
«Wie sollte ich einen Unterschied machen?» sagte er. «Arme kleine Annie!»
Ein furchtbares Gefühl der Übelkeit stieg in Regine auf: auf den Wiesen standen Millionen von Gräsern, alle gleichartig, alle gleich …
«Es gab aber eine Zeit, wo nur ich für Sie da war …»
«Ja. Und dann haben Sie mir die Augen geöffnet …»
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ein Grashalm, nichts als ein Gras. Jeder glaubte anders zu sein als die anderen; jeder erkannte sich selber einen Vorzug zu; und alle täuschten sich; und sie hatte sich selbst ebenso wie die anderen getäuscht.
«Kommen Sie wieder zurück», sagte sie.
«Nein», antwortete er. «Es hat keinen Zweck. Ich habe geglaubt, ich könne noch einmal wieder ein Mensch werden: es ist mir manchmal gelungen nach solchen Zeiten des Schlafs. Aber es ist nun einmal vorbei: Ich kann es jetzt nicht mehr.»
«Wir wollen es weiter versuchen.»
«Ich bin zu müde dazu.»
«Dann bin ich verloren», sagte sie.
«Ja, das ist schlimm für Sie», sagte er. Er beugte sich näher zu ihr. «Es tut mir leid. Ich habe mich getäuscht. Ich sollte mich nicht mehr täuschen», fügte er kurz auflachend hinzu. «Ich bin eigentlich über die Jahre hinaus. Aber ich denke mir, es läßt sich halt nicht vermeiden. Wenn ich zehntausend Jahre älter bin, werde ich mich auch noch täuschen: man macht keine Fortschritte, scheint es.»
Sie ergriff Foscas Hände. «Ich bitte Sie um zwanzig Jahre Ihres Lebens. Zwanzig Jahre! Was ist das schon für Sie?»
«Ach! Sie verstehen nicht», sagte er.
«Nein, ich verstehe nicht!» rief sie aus. «An Ihrer Stelle würde ich versuchen, den Menschen zu helfen; an Ihrer Stelle …»
Aber er fiel ihr ins Wort: «Sie sind nicht an meiner
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