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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Stelle.» Er zuckte die Achseln. «Niemand kann sich das vorstellen», sagte er. «Ich habe Ihnen ja gesagt: ‹Unsterblich sein ist ein Fluch.›»
    «Sie machen einen Fluch daraus.»
    «Nein. Ich habe gekämpft», sagte er. «Sie wissen nicht, wie ich gekämpft habe!»
    «Aber wieso?» fragte sie. «Erklären Sie es mir.»
    «Das ist unmöglich. Ich müßte Ihnen alles erzählen.»
    «Gut! Erzählen Sie», sagte sie. «Wir haben Zeit, nicht wahr, wir haben ja Zeit genug?»
    «Aber wozu denn?» sagte er.
    «Mir zu Gefallen, Fosca. Vielleicht ist es weniger furchtbar für mich, wenn ich es verstehe.»
    «Es ist immer dieselbe Geschichte», sagte er. «Sie wird nie anders werden. Ich werde sie endlos mit mir herumschleppen müssen.» Er blickte rund um sich her. «Gut. Ich werde sie Ihnen erzählen», sagte er.

Erster Teil
    Ich bin am 17.   Mai 1279 in Italien, und zwar in einem Palast in der Stadt Carmona, geboren. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt. Ich wurde vom Vater erzogen, der mich selbst im Reiten und Bogenschießen unterwies; ein Mönch war damit betraut, mir Unterricht zu erteilen; er bemühte sich, mich Gottesfurcht zu lehren. Aber von frühester Jugend an dachte ich nur an die Erde und fürchtete mich vor nichts.
    Mein Vater war schön und stark, ich bewunderte ihn. Wenn ich Franz Rienzi mit seinen krummen Beinen auf seinem Rappen vorbeireiten sah, fragte ich erstaunt: «Warum ist er der Herr von Carmona?»
    Ernst sah mein Vater mich an: «Wünsche dich niemals an seine Stelle», antwortete er mir.
    Das Volk haßte Franz Rienzi. Es hieß, er trüge unter seinen Kleidern ein starkes Panzerhemd; zehn Mann seiner Leibwache waren immer um ihn. In seiner Kammer stand zu Füßen seines Bettes eine große Truhe, mit drei Vorhängeschlössern verwahrt; diese Truhe war voll von Gold. Alle Edlen der Stadt klagte er nacheinander des Verrates an und zog ihr Eigentum ein; mitten auf der Piazza war ein Schafott errichtet, und mehrere Male im Monat rollte ein Haupt aufs Pflaster herab. Er nahm das Geld der Armen so gut wie das der Reichen. Wenn ich mit meiner alten Amme spazierenging, zeigte sie mir die elenden Hütten des Färberviertels, die schmutzverkrusteten Kinder, die Bettler auf den Kirchenstufen, und dann sagte sie:
    «An diesem Elend ist allein der Herzog schuld.»
    Carmona war auf der Höhe eines starren Felsens erbaut, kein Brunnen war auf den Plätzen. Die Männer stiegen zuFuß hinab und füllten ihre Schläuche in der Ebene, und das Wasser war teuer wie Brot.
    Eines Tages läuteten die Glocken vom Dom, und die Häuserfronten wurden mit schwarzen Tüchern verhüllt. Zu Pferde neben meinem Vater ritt ich im Trauergefolge, das die sterbliche Hülle des Franz Rienzi zu seiner letzten Behausung trug. In tiefes Schwarz gekleidet schritt Bertram Rienzi dem Leichenzug voran: man raunte einander zu, daß er seinen Bruder vergiftet habe.
    Die Straßen von Carmona waren vom Lärm der Feste erfüllt; das Schafott vor dem Herzogspalast wurde abgerissen; in prunkvollen Aufzügen ritten in Seide und Brokat gekleidete Edelleute durch die Straßen dahin; Turniere fanden auf der Piazza statt; die Ebene hallte vom Klang der Hörner und von freudigem Hundegebell; am Abend strahlte der herzogliche Palast von tausend Feuern wider. Aber in feuchten Kerkerhöhlen schmachteten reiche Bürger und Edelleute dahin, deren Güter Bertram eingezogen hatte. Die Truhe mit den Vorlegeschlössern war immer wieder leer; neue Steuern regneten auf arme Handwerksleute herab, und in den engen Gassen voll tödlicher Mißgerüche stritten sich die Kinder um ein Stück schwarzes Brot. Bertram Rienzi war beim Volk verhaßt.
    Oft kamen zur Nacht die Freunde des Pietro degli Abruzzi bei meinem Vater zusammen und unterhielten sich flüsternd bei Fackelschein; jeden Tag brachen Streitigkeiten zwischen seinen Leuten und denen des Bertram Rienzi aus. Selbst die Kinder von Carmona waren in zwei Parteien geteilt, und unter den Wällen, im dichten Gestrüpp, warfen wir uns mit Steinen. «Es lebe der Herzog», riefen die einen, und «Nieder mit dem Tyrannen» schrien die anderen. Wir schlugen uns heftig genug, aber diese Spiele konnten mir nicht genügen; der zu Boden geworfene Gegner erhob sich immer wieder, die Toten standen wieder auf; am Tag nachsolchen Kämpfen fanden sich Sieger und Besiegte unversehrt zusammen; es waren eben nur Spiele, und voller Ungeduld fragte ich mich: «Soll ich noch lange ein Kind sein?»
    Ich war fünfzehn Jahre alt,

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