Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
ich die Karawanen unseren Hügel heraufziehen, und ich dachte bei mir: Ich habe die Hungersnot besiegt.
     
    Der Himmel war blau, und festlicher Lärm drang durch das offene Fenster; Caterina saß mit Luigia an einer Stickerei. Ich hatte den kleinen Sigismund auf meine Schultern gesetzt und galoppierte durch den mit blühenden Mandelzweigen geschmückten Saal.
    «Trab!» rief das Kind. «Galopp!»
    Ich liebte den kleinen Sigismund, er war mir näher als irgendein anderer Mensch, er wußte nicht, daß seine Tage gezählt waren, er kannte keine Jahre, Monate oder Wochen, er fühlte sich selig im Herzen eines strahlenden Tages ohne Morgen und ohne Ende, in einem ewigen Beginnen, in ewiger Gegenwart. Seine Freude war so unendlich wie der Himmel: «Trab! Galopp!» Ich lief und dachte dabei: Niemals wird die Himmelsbläue vergehen, und Frühlinge werden kommen, zahlloser als Mandelblüten. Nie wird meine Freude erlöschen.
    «Aber warum willst du denn so bald schon reisen?» fragte Caterina. «Warte doch bis Pfingsten. Es ist ja noch kalt da oben.»
    «Ich will fort», sagte Luigia, «ich will morgen schon fort.»
    «Morgen! Das ist doch nicht dein Ernst! Acht Tage sind mindestens nötig, um das Haus zu richten.»
    «Ich will fort», beharrte sie.
    Ich kam näher und blickte neugierig in das verschlossene kleine Gesicht.
    «Aber warum denn nur?»
    Luigia stach mit ihrer Nadel durch den Stramin der Stickerei.
    «Die Kinder brauchen andere Luft.»
    «Aber mir scheint, es geht ihnen ausgezeichnet», sagte ich. Ich kniff Sigismund in die Wade und lächelte den beiden kleinen Mädchen zu, die auf dem Teppich saßen.
    «Der Frühling ist in Carmona so schön.»
    «Ich will fort», sagte Luigia.
    Tankred lächelte kühl: «Sie hat Angst.»
    «Angst?» sagte ich. «Wovor?»
    «Sie hat Angst vor der Pest», antwortete Tankred. «Sie hat recht. Du hättest die fremden Kaufleute nie herauflassen sollen.»
    «Was für ein Unsinn!» rief ich aus. «Rom und Neapel sind weit.»
    «Über Assisi soll ein Schwarm von großen Insekten eingefallen sein. Sie haben acht Beine und Zangen.»
    «Und bei Siena», spottete ich, «hat sich die Erde aufgetan und hat Feuer gespien.» Ich wandte mich achselzuckend ab. «Wenn ihr an alles glauben wollt, was die Leute sagen!»
    Caterina drehte sich zu Ruggiero um, der mit beiden Händen auf dem Bauch schlief; seit einiger Zeit schlief er unaufhörlich; er wurde neuerdings fett.
    «Und was meinst du, Ruggiero?»
    «Ein Kaufmann aus Genua hat mir erzählt, die Pest sei in Assisi», erklärte er seelenruhig.
    «Selbst wenn das stimmte», sagte ich, «so käme sie doch nicht zu uns; denn die Luft hier oben ist wie Bergluft so rein.»
    «Natürlich, du – du brauchst nichts zu fürchten», rief Luigia aus.
    «Haben deine Ärzte auch die Pest vorgesehen?» fragte Tankred spitz.
    «Ach, mein Sohn! Sie haben alles vorgesehen», antwortete ich. Ich blickte ihn boshaft funkelnd an: «Ich kann dir jetzt schon sagen, daß ich in 20   Jahren Sigismund in meine Regierung nehmen werde.»
    Er stand auf und warf die Tür heftig hinter sich zu.
    «Du solltest ihn nicht so reizen», sagte Caterina.
    Ich erwiderte nichts.
    Zögernd blickte sie mich an: «Willst du nicht die Mönche empfangen, die dich sprechen wollen?»
    «Ich lasse ihre Horden nicht nach Carmona herein», sagte ich.
    «Aber du mußt sie doch anhören», gab Caterina zurück.
    «Sie können uns vielleicht über die Pest etwas sagen», warf Luigia ein.
    Ich gab Ruggiero einen Blick. «Es ist gut. Laß sie kommen.»
    Überall in den Städten Italiens, in denen die Hungersnot wütete, waren Männer aufgestanden und predigten leidenschaftlich, daß jedermann Buße tun solle. Ihrem Rufe folgend, verließen die Krämer ihre Läden, die Handwerker ihre Werkstatt, die Bauern ihre Felder, sie legten weiße Gewänder an und zogen sich Kapuzen über das Gesicht; die Armen, die sonst nichts hatten, hüllten sich in Leintücher ein. Sie gingen von Stadt zu Stadt, barfuß, geistliche Lieder singend und die Einwohner mahnend, sie sollten mit ihnen ziehen. An diesem Morgen waren sie unter den Mauern von Carmona erschienen, und ich hatte ihnen verboten, sie durch die Tore zu lassen. Doch waren die Mönche, die sie führten, zum Palast heraufgekommen. Sie traten hinter Ruggiero ein, in weiße Kutten gehüllt.
    «Setzt euch, meine Brüder», sagte ich.
    Der kleine Mönch machte einen Schritt auf einen Damastsessel zu, doch der größere hielt ihn zurück.
    «Es hat keinen

Weitere Kostenlose Bücher