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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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seinen Mantel los und warf ihn auf den Boden. Ich hatte die Hungersnot besiegt, die Freude hier war mein Werk.
    Die Kinder tobten vor Wonne. Gefügig stand ich mit ihnen vor den gelehrigen Affen; ich klatschte dem Tanzbären Beifall und den Schiffsleuten in ihren gestreiften Blusen, die auf den Händen gingen. Sigismund zerrte mich voll unersättlicher Schaulust bald nach rechts, bald nach links.
    «Hierher! Großvater! Komm hierher!» schrie er und zeigte auf einen Kreis von Gaffern, die mit gespannter Aufmerksamkeit einer Darbietung folgten, die wir nicht sehen konnten. Ich bahnte mir einen Weg.
    «Zurück, durchlauchtigster Herr!» sagte da ein Mann zu mir mit bestürzter Miene.
    «Was ist denn hier los?»
    Ich drängte mich vor; ein Mann, sichtlich ein fremder Kaufmann, lag auf den Boden hingestreckt mit geschlossenen Augen.
    «Nun und? Worauf wartet ihr denn, um ihn ins Spital zu schaffen?» rief ich ungeduldig aus.
    Sie blickten mich schweigend an, keiner rührte sich.
    «Worauf wartet ihr?» fragte ich. «Schafft den Mann hier weg.»
    «Wir haben Angst», sagte einer der Männer zu mir. Er streckte seinen Arm aus, um mir den Weg zu versperren. «Tretet nicht näher heran.»
    Ich drängte ihn auf die Seite und ließ mich neben dem leblosen Körper auf die Knie nieder. Ich faßte den Fremden beim Handgelenk und schob seinen Ärmel zurück. Der weiße Arm war mit schwarzen Flecken besät.
     
    «Die Priester sind unten», sagte Ruggiero zu mir.
    «Oh», sagte ich, «schon.» Ich fuhr mit der Hand über das Gesicht. «Ist Tankred da?»
    «Nein», gab Ruggiero zurück.
    «Wer ist da?»
    «Niemand!» sagte Ruggiero. «Ich habe vier Männer mieten müssen und mußte ihnen noch dazu ein Vermögen versprechen.»
    «Niemand!» rief ich aus.
    Ich blickte mich um. Die Kerzen waren beinahe heruntergebrannt, das graue Tageslicht drang durch das Fenster herein. Hätte ich gesagt: «Caterina, keiner ist da», sie hätte zur Antwort gegeben: «Natürlich, sie fürchten sich.» Vielleicht wäre sie errötet: «Sie sind zu feige dazu.» Ich wußte nicht, welche Antwort ich ihr in den Mund legensollte. Meine ausgestreckte Hand berührte das Holz des Sarges.
    «Nur zwei Priester sind da», fügte Ruggiero hinzu. «Sie sagen, der Dom sei zu weit von hier. Sie werden die Totenmesse in der Kapelle lesen.»
    «Wie sie wollen.»
    Ich ließ meine Hand heruntersinken. Die Männer traten mit schweren Schritten in die Kammer, derbe Bauern mit rotem Gesicht: sie gingen auf die Bahre zu, ohne mich anzusehen, und luden sie mit einer rohen Bewegung auf; sie haßten den schmächtigen Leichnam, der zwischen den Brettern lag, die schwarzgefleckte Tote; und sie haßten auch mich; seit dem Ausbruch der Pest liefen Gerüchte um, daß ich meine Jugend einem Pakt mit dem Bösen verdankte.
    Die beiden Priester standen am Fuße des Altars; Diener und ein paar Bewaffnete bildeten eine dünne Reihe an der Wand. Die Träger setzten den Sarg inmitten des leeren Schiffes ab, und die Priester murmelten eilig ihre Gebete. Der eine von ihnen machte in der Luft ein großes Kreuz, dann schritten sie rasch dem Ausgang zu. Die Träger folgten ihnen mit der Bahre, hinter mir waren Ruggiero und ein paar Mann von der Wache. Es war hell geworden, die Luft war rosig und lau; in den Häusern waren die Menschen wach und entdeckten mit Schaudern die schwarzen Flecke auf ihrem Arm. Die über Nacht gestorben waren, hatte man aus den Häusern geschafft, die Toten lagen in Reihen an den Seiten der Straßen. Über der ganzen Stadt hing ein so schwerer Leichengeruch, daß man sich wunderte, den Himmel davon nicht verdunkelt zu sehen.
    «Herr», sagte Ruggiero.
    Aus einem Türrahmen waren zwei Männer herausgetreten, sie trugen ein Brett, auf dem eine Leiche lag; sie schlossen sich den Wachen an, um von den Gebeten etwas mitzubekommen, die die Priester sprachen.
    «Laß sie», sagte ich.
    Ein Maulesel, mit Gepäck beladen, kam aus einem Gäßchen heraus. Ein Mann und eine Frau gingen hinter ihm her; sie flohen. In den ersten Tagen waren viele geflohen; doch die Pest folgte ihnen nach; sie lief schneller als sie: sie hatten sie auf den Ebenen, den Bergen schon angetroffen; nirgends blieb eine Stätte für die Flucht. Und dennoch flohen diese. Im Vorübergehen spie die Frau auf den Boden vor mir aus. Etwas weiter fort kam eine Bande von jungen Burschen und von Frauen mit zerwühltem Haar singend und schwankend die Straße herab; sie hatten die Nacht damit verbracht, in einem der

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