Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
trennten wir uns; er zog hinab nach Rom, neuen Abenteuern entgegen, und lange folgte ich mit meinen Blicken dem Mann, der kein Ziel vor sich sah und über sein Schicksal verfügte mit der Sorglosigkeit der Sterblichen. Dann gab ich dem Pferd die Sporen und galoppierte nach Hause zurück.
    Ich wollte nicht länger das Schicksal der Stadt in Söldnerhände legen und faßte den Entschluß, ihr eine Armee zuschenken. Ich brauchte dazu viel Geld. So legte ich den Bürgern schwere Steuern auf, ich erließ ein Gesetz gegen den Luxus jeder Art; ich verbot Männern und Frauen, mehr als zwei Kleider aus grobem Tuch zu besitzen oder ein Schmuckstück zu tragen; auch die Edlen durften nur aus Geschirren speisen, die aus Holz waren oder Ton; die, die sich widersetzten, wurden in Verliese geworfen oder auf öffentlichem Platz gerädert; ihre Besitztümer zog ich ein. Ich zwang alle Männer, sich vor ihrem 25.   Jahre zu verheiraten, und verlangte von den Frauen, daß sie unserer Stadt viele Kinder schenkten. Ob einer Landmann, Weber, Kaufmann oder Edelmann war, ich machte ihn zum Soldaten und überwachte selbst die Ausbildung neuer Truppen. Bald hatte ich eine Kompanie, dann zwei, schließlich zehn aufgestellt. Um unseren Reichtum zu vermehren, ermutigte ich daneben Ackerbau und Handel, und jedes Jahr zog ein großer Markt fremde Kaufleute an, die Korn und Tuch von uns kauften.
    «Wie lange müssen wir noch so leben?» fragte Tankred. Er hatte das helle Haar seiner Mutter und einen begehrlichen Mund; er haßte mich. Er wußte nicht, daß ich unsterblich war, doch glaubte er mich durch eine geheimnisvolle Droge gegen Krankheit und Alter geschützt.
    «Solange es nützlich ist», sagte ich.
    «Nützlich!» rief er aus. «Wozu denn? Und für wen?» Hoffnungsloser Zorn härtete seinen Blick. «Wir sind so reich wie Pisa oder Siena, aber wir kennen keine anderen Feste als Hochzeit und Kindtaufe. Wir sind gekleidet wie Mönche und bewohnen Klöster. Ich bin dein Sohn und muß doch jeden Morgen und Abend Militärdienst machen und mich dem Befehl eines groben Hauptmanns fügen. Ich und meine Kameraden werden zu altern beginnen, ohne jung gewesen zu sein.»
    «Die Zukunft wird euch für eure Mühen belohnen», antwortete ich ihm.
    «Und wer wird uns die Jahre wiedergeben, um die du uns bestiehlst?» Er sah mich trotzig an. «Ich habe nur ein Leben.»
    Ich zuckte die Achseln. Was war ein Leben schon.
    Nach 30   Jahren besaß ich ein Heer, das das größte und bestgerüstete von ganz Italien war; ich begann einen Zug gegen Genua vorzubereiten, als ein ungeheures Unwetter sich in der Ebene erhob. Einen Tag und eine Nacht hindurch regnete es in Strömen. Die Flüsse schwollen an, die Gassen der Unterstadt verwandelten sich in Moräste, die in die Häuser drangen. Am Morgen, als die Frauen die schmutzigen Böden reinigten, standen die Männer entsetzt vor den Plätzen voll gelbem Schlamm, den grundlosen Wegen, dem jungen Korn, das von der Gewalt des Sturmes zerzaust und vernichtet war. Der Himmel lastete wie Blei. Am Abend fing es wieder zu regnen an. Da begriff ich, welche Gefahr uns bedrohte. Ohne Zeit zu verlieren, schickte ich Kaufleute nach Genua mit dem Auftrag, in Sizilien, Sardinien und der gesamten Barbarei Korn für uns einzuhandeln.
    Der Regen fiel den ganzen Frühling und Sommer hindurch. In ganz Italien waren die Saaten überflutet, die Obstbäume umgerissen und das Futter zerstört. Doch ehe der Herbst zu Ende ging, hatten sich die Speicher von Carmona mit Getreidesäcken gefüllt, welche die von uns ausgerüsteten Schiffe über das Meer geschafft hatten; mit leidenschaftlicher Gier atmete ich ihren Staubgeruch ein; das kleinste Korn wog schwer. Ich ließ Backöfen bauen, die unter Aufsicht waren; ich maß selbst jeden Morgen die 100   Maß Getreide aus, die die Bäcker bekamen, um Brote aus Kleie und Mehl zu machen, deren Gewicht ich bestimmte; die eingesessenen Bewohner der Stadt wurden umsonst ernährt. Getreide mangelte überall in Italien; es stieg auf 36   Lire der Zentner, und die Kleie kostete beinahe ebensoviel; im Laufe des einen Winters starben 4000   Menschen in Florenz. InCarmona jedoch schickte man keinen Armen und keinen Kranken, keinen Fremdling fort, und dennoch blieb genug Korn für die Einsaat übrig. In den ersten Tagen des Frühlings 1348, als alle Felder Italiens leer dastanden, wogte das reife Getreide in unserer Ebene, und auf der Piazza von Carmona wurde Markt gehalten. Über die Mauern gebeugt, sah

Weitere Kostenlose Bücher