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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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das Fenster und atmete tief ein. Die Luft füllte meine Lungen und schwellte mir die Brust. Der Mönch fuhr in seiner Predigt fort, und die Menge der Todgeweihten hörte ihm schweigend zu; meine Frau war tot; tot ihr Sohn, ihre Enkel; alle meine Gefährten tot. Ich lebte, und es gab keinen meinesgleichen mehr. Die Vergangenheitwar von mir gefallen; nichts hemmte mich nun mehr. Keine Erinnerung, keine Liebe und keine Pflicht; ich war ohne Gesetz, ich war mein eigener Herr; ich konnte nach Belieben schalten mit diesen armen Leben der Menschen, die alle dem Tode verfallen waren. Unter dem Himmel ohne Gesicht reckte ich mich auf, lebendig, frei und für immer allein.
     
    Ich beugte mich aus dem Fenster und lächelte. Eine sonderbare Armee. Wenigstens 3000   Mann standen auf dem Platz, in lange Tücher eingehüllt, die selbst das Gesicht verbargen; jeder hielt am Zügel ein Pferd. Unter ihren Kutten trugen sie Rüstungen und das Schwert an der Seite. Ich trat vor den Spiegel aus venezianischem Glas. Unter der weißen Wollkapuze sah mein Gesicht so schwarz wie das eines Mohren aus, und meine Augen waren nicht die eines frommen Mannes. Ich schlug die Kapuze von meinem Gesicht zurück und stieg auf den Platz hinunter. Als die Seuche zu Ende ging, hatte das Volk unter dem Eindruck der Furcht vor dieser entsetzlichen Geißel, der es entronnen war, und erschüttert durch die Predigten der Mönche sich allen Übertreibungen einer exaltierten Frömmigkeit hingegeben. Angeblich ebenfalls von diesem fanatischen Eifer erfaßt, hatte ich alle rüstigen Männer aufgefordert, sich mit mir zusammen auf eine lange Pilgerfahrt zu begeben. Wir waren nur soweit bewaffnet, wie es nötig war, um uns gegen die Räuberbanden zu verteidigen, die bei uns auf dem Lande zur Plage geworden waren. Die meisten meiner Gefährten glaubten an die Redlichkeit meines Vorhabens, doch manche folgten mir gerade darum, weil sie daran zweifelten.
    Durch die alte Färbergasse verließen wir die Stadt; die Häuser waren nur noch ein Haufen alten Gemäuers; offenbar hatte der Teufel meine Wünsche erhört: alle Bewohner dieses Viertels waren dahingerafft von der Pest, und die Arbeiter hatten vollends die Häuser abgetragen. Sie waren tot,und andere Menschen würden geboren werden: Carmona aber lebte. Es ragte auf seinem Felsen auf, flankiert von seinen acht Türmen: verödet, unzerstört.
    Wir kamen zuerst nach Villana, das wir mit dem Gesang geistlicher Lieder durchzogen; die Einwohner schlossen sich in großer Menge unseren Scharen an. Dann traten wir auf das Gebiet der Genueser über: wohin wir kamen, suchte ich den Statthalter jedes Fleckens auf und bat ihn, uns aufzunehmen. Dann zogen wir geordnet durch die Straßen hin, ermahnten alles zur Buße und nahmen Almosen an. Als wir im Herzen des Landes angekommen waren, behauptete ich auf einmal, die Signoria von Genua habe uns den Eintritt verwehrt. Die von Hungersnot und Pest verwüsteten Felder boten uns wenig Nahrung, so daß wir bald unter dem Hunger litten. Einige Büßer schlugen vor, nach Carmona zurückzukehren; ich wandte dagegen ein, daß wir uns zu weit entfernt hätten und daß wir an Erschöpfung zugrunde gehen würden, noch ehe wir die Heimat erreicht; besser sei es, bis nach Rivello vorzustoßen, jener großen und reichen Hafenstadt, die nicht zögern würde, unsere Not zu lindern.
    Der Statthalter von Rivello willigte tatsächlich ein, uns seine Tore zu öffnen; doch ich machte meine Gefährten glauben, daß wiederum gottlose Menschen taub blieben für unser Flehen. Da fingen die Pilger zu murren an und drohend zu bemerken, sie seien wohl imstande, mit Gewalt zu nehmen, was christliche Nächstenliebe ihnen nicht geben wolle. Ich tat, als hörte ich nur widerwillig solche Reden an; doch während ich Ergebung predigte, gab ich zu verstehen, daß uns nichts übrigbliebe, als hier am Ort zu sterben; bald darauf kochte Zorn in den Herzen der Männer, und ich mußte mich scheinbar dem Willen der hungrigen Horden fügen.
    Der Zug drang durch die Tore Rivellos ein, ohne Mißtrauen zu erregen; doch als wir auf der Piazza angekommenwaren, riß ich die weiße Kutte ab, sprengte auf den Palast des Statthalters zu und rief: «Es lebe Carmona!» Im selben Augenblick standen alle Büßer nach Abwerfen ihrer Umhüllungen in Waffen starrend da. Die Überraschung war so groß, daß sich uns nirgends jemand zu widersetzen wagte. Der Blutgeruch und der Taumel des Sieges hatten die frommen Pilger im Nu zu Kriegern

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