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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nur den Eigensinn der Ketzer bis aufs äußerste; die Prediger hielten ihnen fanatische und verlogene Reden. War es denn nicht möglich, sie zur Vernunft und zur Erkenntnis ihrer wahren Interessen zu bringen?
    «Was nennen Sie ihre wahren Interessen?» fragte Balthus, mit dem ich über solche Ideen sprach.
    Er sah mich ironisch lächelnd an. Er gehörte zu den Männern, deren Mitarbeit ich mir wünschte. Doch seitdem Luther verurteilt war, behandelte er mich immer mit einer gewissen Zurückhaltung.
    «Sie haben recht», sagte ich. «Man müßte wissen, was wirklich an der Sache ist.» Ich faßte ihn scharf ins Auge. «Wissen Sie es vielleicht?»
    «Ich», sagte er mit einem vorsichtigen Lächeln, «habe keinen Umgang mit Ketzern.»
    «Ich werde mit ihnen umgehen», sagte ich. «Ich will ein für allemal Klarheit haben.»
    Als Karl an der Spitze seiner Truppen aufgebrochen war, begab ich mich in die Niederlande und befragte den Nuntius Alexander. Nachdem ich erfahren hatte, daß die Sekte, die die meisten Anhänger zählte, die der Wiedertäufer sei – sie wurde so genannt, weil sie sich gegenseitig einer neuen Taufe unterzogen   –, versuchte ich, mich ihnen zu nähern; man sagte mir, es sei nicht schwer, zu ihrem Kreis Zutritt zu bekommen, da sie, offenbar nach dem Martyrium trachtend, sich kaum zu verbergen pflegten. Tatsächlich gelang es mir, an einigen ihrer Versammlungen teilzunehmen. Eng aneinandergedrängt im Hinterraum eines Ladens, der durch zwei Laternen erleuchtet war, hörten Handwerker, kleine Angestellte und Händler mit flammenden Augen dem Redner zu, der, wie unter einer Inspiration stehend, inbrünstige Worte des Glaubens an sie richtete. Meist war es ein kleiner Mann mit sanften blauen Augen, der von sich sagte, der Prophet Enoch sei in ihm wiedererstanden. Seine Reden waren gewöhnlich ziemlich unbedeutend; er stellte ein neues Jerusalem in Aussicht, in dem Frieden und Brüderlichkeit herrschen würden; aber er brachte diese Hirngespinste mit gesteigerter Stimme hervor; viele Frauen waren unter der Zuhörerschaft sowie ganz junge Leute; sie hörten mit leidenschaftlichem Eifer zu, ihr Atem wurde keuchend, und bald fingen sie zu schreien an, sanken auf die Knie und umarmten sich weinend; oft auch zerrissen sie ihre Kleider oder zerfetzten sich das Gesicht mit den Fingernägeln; Frauen warfen sich auf den Boden, die Arme zur Seite gestreckt, so daß sie die Form des Kreuzes annahmen, und Männer traten auf ihnen herum. Danach kehrten sie ruhig wieder nach Hause zurück. Sie schienen harmlos zu sein. Der Präsident der Roten Kammer, der von Zeit zu Zeit eine Handvoll von ihnen verbrennen ließ, sagte mir, er sei erstaunt über ihre Sanftmut und ihre Fügsamkeit. Die Frauen schritten singend zum Scheiterhaufen. Mehrmals versuchteich, mit dem Propheten zu sprechen; aber er lächelte nur, ohne Rede zu stehen.
    Mehrere Wochen lang setzte ich mit meinen Besuchen in dem Ladenhinterraum aus. Als ich eines Abends wieder dort war, kam mir die Sprache des Redners seltsam gewandelt vor. Er schrie viel heftiger als sonst, und am Ende seiner Predigt rief er leidenschaftlich aus: «Es genügt nicht, den Reichen die Ringe von den Fingern zu reißen und die Ketten von ihrem Hals. Wir müssen alles Bestehende zerstören.»
    Die Menge erhob ein frenetisches Geschrei und wiederholte seine Worte: «Wir müssen zerstören! Wir müssen zerstören!» Sie gerieten in ein solches Stadium von Hingerissenheit, daß ich mich von Angst gepackt fühlte. Beim Verlassen der Veranstaltung faßte ich den Propheten am Arm:
    «Warum predigt Ihr, daß zerstört werden muß? Erklärt es mir.»
    Er blickte mir sanft in die Augen: «Es muß zerstört werden.»
    «Nein», sagte ich, «man muß bauen.»
    Er schüttelte den Kopf: «Zerstört muß werden. Nichts anderes bleibt den Menschen übrig.»
    «Aber Ihr habt doch selbst das neue Jerusalem verheißen.»
    Er lächelte: «Ich verheiße es, weil es nicht existiert.»
    «Aber Ihr wünscht nicht wirklich, daß es erstehen möge?»
    «Wenn es wirklich erstände und die Menschen glücklich wären, was bliebe ihnen dann auf Erden zu tun?» Er sah mir tief in die Augen, und in seinem Blick lag dabei etwas wie Angst. «Die Welt lastet so schwer auf uns. Es gibt nur ein Heil: vernichten, was geschaffen worden ist.»
    «Welch seltsames Heil!» sagte ich.
    Er lachte boshaft auf: «Sie wollen uns in Steine verwandeln,aber wir lassen es nicht zu!» Plötzlich erhob sich seine gewaltige

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