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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Aufblühen von Antwerpen jener alten Stadt ein Dorn im Auge gewesen: die Kaufleute hatten mit ansehen müssen, wie ihnen die meisten Aufträge verlorengingen, und die arbeitslosen Handwerker lebten im Elend dahin. Als die Regentin allen Städten eine nationale Abgabe auferlegen wollte, weigerte sich die Stadt Gent, sie ihrerseits zu zahlen. Die Aufständischen zerrissen die Urkunde der städtischen Verfassung, die den Gentern im Jahre 1515 verliehen worden war, und als Zeichen ihrer Einmütigkeit trugen sie die kleinen Pergamentstückchen auf ihre Kleider geheftet. Sie töteten einen der Ratsherren und begannen die Stadt zu plündern. Vom König von Frankreich erlangten wir freien Durchgang, und am 14.   Februar zog Karl   V. mit Maria, dem päpstlichen Legaten, den Gesandten, Fürsten und Herren von Deutschland und Spanien in die Stadt Gent ein; dahinter folgten die kaiserliche Reiterei und 20   000   Landsknechte; mit seinem gesamten Train brauchte dieser Zug fünf Stunden, um sich abzuwickeln. Karl richtete seine Residenz in dem Schloß ein, in dem er 40   Jahre zuvor geboren war, und seine Truppen wurden auf die verschiedenen Stadtviertel verteilt; sogleich begann ein Schreckensregiment; nach drei Tagen mußten die Führer der Aufständischen den Kampf aufgeben. Am 3.   März begann der Prozeß; der Generalprokurator von Mecheln legte den Souveränen die Verbrechen der Stadt dar; eine Abordnung der Genter kam, um die Regentin um Erbarmen zu bitten; sie aber hörte sie zornig an und verlangte unerbittliche Bestrafung.
    «Sind Sie nicht des Strafens müde?» fragte ich Karl.
    Er sah mich verwundert an: «Was haben meine Gefühle zu sagen?»
    Nach außen hin hatte er seine heitere Seelenruhe wiedergefunden; er aß und trank mit gutem Appetit und war in immer gleicher Weise auf sorgfältige Kleidung bedacht; nichtsin seinem Verhalten hätte auf die Leere seines Herzens schließen lassen.
    «Halten Sie diese Leute wirklich für Verbrecher?»
    Er zog die Brauen hoch: «Sind die Indianer von Amerika etwa Verbrecher gewesen? Sie selber haben mich gelehrt, man könne nicht regieren, ohne Böses zu tun.»
    «Wofern es nützlich ist», sagte ich.
    «Man muß ein Exempel statuieren», meinte er darauf.
    Ich sah ihn von oben bis unten an.
    «Ich bewundere Sie», sagte ich.
    Er wandte den Kopf zur Seite: «Ich habe nicht das Recht, Philipps Erbe zu gefährden.»
    Am folgenden Tag begannen die Hinrichtungen; sechs Rädelsführer wurden enthauptet, während die spanischen Söldner die Häuser der Bürger plünderten und ihre Frauen und Töchter vergewaltigten. Der Kaiser ließ ein ganzes Viertel von Gent mit allen Kirchen niederlegen und eine Zitadelle auf den Trümmern errichten. Das Stadtvermögen von Gent wurde konfisziert; man nahm der Stadt alle Waffen, Kanonen, Munition und ihre Sturmglocke, die «Der Roland» hieß; alle Privilegien wurden abgeschafft, und die Einwohner mußten öffentlich Abbitte leisten.
    «Warum?» murmelte ich. «Warum?»
    Maria aber saß lächelnd zu seiten ihres Bruders. 30   Notabeln, in Schwarz gekleidet und mit bloßen Füßen, knieten vor der Regentin; hinter ihnen sah man, im Hemd, mit einem Strick um den Hals, je sechs Repräsentanten der Zünfte, 50   Weber und 50   Mitglieder der Partei des Volkes. Alle beugten das Haupt und preßten die Lippen zusammen. Sie hatten frei sein wollen, und um sie für dies Verbrechen zu bestrafen, zwangen wir sie, auf den Knien zu liegen. Über ganz Deutschland hin waren Tausende von Menschen gerädert, gevierteilt, verbrannt, Tausende von Adligen und Bürgern in Spanien enthauptet worden; in den Städten der Niederlandewanden sich überall Ketzer in den Flammen der Scheiterhaufen. Und das alles warum?
    Am Abend sagte ich zu Karl: «Ich möchte nach Amerika gehen.»
    «Jetzt?» sagte er.
    «Jetzt.»
    Es war meine letzte Hoffnung, mein einziges Verlangen. Ein Jahr vorher hatten wir die Botschaft erhalten, daß Pizarro angesichts seines Heeres den von Gold strahlenden Kaiser von Peru gefangen und sein Gebiet unterworfen hatte. Die erste Galeone, die aus diesem neuen Königreich kam, war in Sevilla mit einer Ladung von 42   496   Goldpesos und 7150   Silbermark eingetroffen. Da drüben verbrauchte man seine Kräfte nicht damit, durch unnütze Kriege und grausame Unterdrückung eine schwankende Vergangenheit ins Gleichgewicht zu bringen; da drüben sah man wirklich eine Zukunft erstehen, man schuf, man baute auf.
    Karl war ans Fenster getreten; er

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