Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
Prophetenstimme in die Nacht: «Wir werden zerstören, wir werden verwüsten, nur so werden wir leben.»
    Nicht lange Zeit danach zogen die Wiedertäufer in Scharen durch die Städte Deutschlands, verbrannten Kirchen und Bürgerhäuser, Klöster, Bücher, Möbel, zerstörten Grabstätten und steckten Getreidespeicher in Brand, vergewaltigten Frauen und gaben sich blutigen Orgien hin; sie machten alles nieder, was sich ihrer Wut zu widersetzen wagte. Ich erfuhr, daß der Prophet Enoch Herr über Münster geworden war, und von Zeit zu Zeit drang Kunde zu mir von entsetzlichen Bacchanalien, die unter seiner Herrschaft dort veranstaltet wurden. Als der Bischof ihm endlich seine Stadt wieder abnahm, wurde der Prophet in einen eisernen Käfig gesperrt, den man in einen der Türme der Kathedrale hängte. Nicht lange noch beschäftigte ich mich in Gedanken mit diesem seltsamen Schicksal. Doch voll ernster Sorge sagte ich mir: Man kann den Hunger besiegen, man kann die Pest überwinden: aber wird man der Menschen Herr?
    Ich wußte, daß die Lutheraner auch ihrerseits mit Abscheu auf die Verirrungen blickten, zu denen die Wiedertäufer das Zeichen gegeben hatten. Dies Gefühl versuchte ich mir zunutze zu machen; ich verlangte zwei Augustinermönche zu sprechen, die das geistliche Tribunal von Brüssel zum Feuertode verurteilt hatte.
    «Warum weigert ihr euch, dies Papier zu unterschreiben?» fragte ich sie und zeigte ihnen die Widerrufungsurkunde.
    Die beiden lächelten schweigend; es waren Männer mittleren Alters mit fülligen Gesichtern.
    «Ich weiß es», sagte ich. «Ihr verachtet den Tod; ihr seid begierig darauf, den Himmel zu erlangen. Ihr denkt nur an euer eigenes Heil: glaubt ihr aber wirklich, daß Gott solche Selbstsucht gutheißen wird?»
    Sie sahen mich etwas verwundert an; dies war nicht die Sprache, die sie aus dem Mund der Inquisitoren vernahmen.
    «Ihr habt gehört, welche Greuel die Sekte der Wiedertäufer in Münster und durch ganz Deutschland hin verübt hat?»
    «Ja.»
    «Seht ihr! Ihr selbst tragt die Verantwortung für diese Verirrungen ebenso wie für den großen Aufstand vor zehn Jahren!»
    «Ihr wißt, daß Ihr etwas Falsches sagt», meinte einer der Mönche. «Luther hat ausdrücklich die Gemeinschaft mit diesen Leuten abgelehnt.»
    «Er hat sie so heftig abgelehnt, weil er sich schuldig fühlte. Denkt einmal nach», sagte ich. «Ihr nehmt das Recht für euch in Anspruch, die Wahrheit in euern Herzen zu suchen und sie laut zu verkünden; wer wird die Narren hindern und die Fanatiker, auch ihre Wahrheit auf die Gassen hinauszuschreien? Seht nur einmal an, wie viele Sekten entstanden sind und wie vieles Unheil sie angerichtet haben.»
    «Das sind Irrlehren», sagte der Mönch.
    «Und wie könnt ihr das beweisen, wenn ihr jede Autorität ablehnt?» Beschwörend setzte ich hinzu: «Es mag sein, daß die Kirche oft versagt hat. Ich gebe zu, daß sie manchmal Falsches lehrt, und untersage euch nicht, sie in euren Herzen zu verdammen. Doch warum greift ihr sie in aller Öffentlichkeit an?»
    Sie hörten mir zu, das Antlitz zur Erde geneigt und die Arme tief in die Ärmel ihrer Kutten geschoben; ich war so überzeugt, recht zu haben, daß ich mit Sicherheit glaubte, sie gewinnen zu können.
    «Die Menschen müssen eins werden», sagte ich. «Sie haben zu kämpfen gegen die Feindseligkeit der Natur, gegen Elend, Kriege und Ungerechtigkeit; sie dürfen ihre Kräfte nicht in eitlen Disputen erschöpfen; sät keine Zwietrachtunter ihnen. Könnt ihr nicht eure eigenen Meinungen dem Wohl eurer Brüder opfern?»
    Sie hoben wieder das Haupt, und derjenige, der bisher geschwiegen hatte, sprach: «Es gibt nur ein Gutes», sagte er. «Nach seinem Gewissen handeln.»
    Am folgenden Tag knisterten Flammen auf dem Marktplatz von Brüssel, ein entsetzlicher Geruch von verbranntem Fleisch stieg zum Himmel empor, um die Scheiterhaufen herum betete eine andachtsvolle Menge schweigend für die Seelen der beiden Märtyrer. An ein Fenster gelehnt, sah ich in der Luft die schwarzen Aschenwolken: Diese Wahnsinnigen! Die Flammen verzehrten sie bei lebendigem Leibe; sie hatten es selbst gewollt; wie von Sinnen hatte Antonio sich in den Tod gestürzt und Beatrice nichts vom Leben wissen wollen; der Prophet Enoch hatte hoch oben in seinem Turm den Hungertod erlitten. Ich sah den Scheiterhaufen an und fragte mich, ob sie wirklich von Sinnen seien oder ob es etwas gäbe im Herzen der sterblichen Menschen, was ich nicht zu deuten

Weitere Kostenlose Bücher