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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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die Fäuste ballte und in seinen Adernsein Blut hatte rauschen hören: ihm wollte ich wieder begegnen und wieder eins werden mit ihm. Mit stockendem Atem durchritt ich die mit Oliven- und Mandelbäumen bestandene Ebene. Dann lag Carmona vor mir, oben auf seinem Felsen, von seinen acht weißen Türmen flankiert, immer sich selber gleich. Ich schaute lange hin; ich hatte mein Pferd zum Stehen gebracht, ich wartete – auf was? Ich wartete vergebens, nichts ereignete sich. Ich sah nur eine vertraute Szenerie, die ich am Abend vorher verlassen zu haben glaubte. In einem Nu war Carmona ein Teil meiner Gegenwart, und schon lag es alltäglich und gleichgültig da, und die Vergangenheit blieb mir weiterhin verloren.
    Ich ritt den Hügel hinauf: Hinter den Mauern erwartet er mich. Ich durchritt die Tore. Ich erkannte den Palast, die Stände der Händler, die Tavernen, die Kirchen und die Kamine mit ihrer Trichterform, die rosaroten Pflastersteine und den Rittersporn an den Mauern; alles war an seinem Platz, nur die Vergangenheit fand sich nirgends mehr. Lange stand ich auf dem Marktplatz der Stadt, ich setzte mich auf die Stufen des Doms, ich irrte auf dem Friedhof umher. Aber nichts trug sich zu.
    Die Webstühle schnurrten, Kesselschmiede hämmerten auf dem Kupfer herum, und die Kinder spielten auf den ansteigenden Straßen; nichts hatte sich geändert; keine Lücke war da; niemand in Carmona hatte Verlangen nach mir. Niemand in Carmona hatte jemals nach mir verlangt.
    Ich trat in den Dom und blickte auf die Grabplatten nieder, unter denen die Fürsten von Carmona ruhten; unter der Wölbung waren die Worte des Priesters erklungen: «Sie mögen ruhen in Frieden.» Und sie ruhten in Frieden. Ich selbst aber war zwar tot, aber ich war noch da, Zeuge meiner Abwesenheit. Und ich dachte bei mir: Nie wird es Ruhe geben.
     
    «Niemals wird Deutschland einig sein, solange dieser Luther noch einen einzigen Anhänger hat», rief Karl mit heftiger Stimme aus.
    «Je mehr Luther an Boden verliert, desto mehr gewinnen die Sekten, die neu entstanden und noch bei weitem fanatischer sind», sagte ich.
    «Man muß sie alle vernichten», sagte Karl. Er stemmte seine kräftige Hand auf die Tischplatte. «Es ist Zeit, es ist höchste Zeit.»
    Und es war wirklich Zeit. Zehn Jahre ging es nun schon! Zehn Jahre pompöser Zeremonien, kleinlicher Sorgen, unnützer Kriege, unnützen Blutvergießens. Außer in der Neuen Welt hatten wir nichts aufgebaut. Ein einziges Jahr lang hatten wir einige Hoffnung gehabt: Franz   I. hatte seine Rechte auf Italien, Österreich und Flandern aufgegeben. Mit Ferdinand an der Spitze hatten die deutschen Truppen die Türken vor Wien vertrieben. Isabella hatte Karl einen kräftigen Erben geschenkt; die Erbfolge in Spanien und im Reich war gesichert. Pizarro war auf dem Wege, ein neues Reich zu erobern, das noch reicher war als das von Cortés geschaffene. Ende Februar 1530 war Karl vom Papst im Dom von Bologna zum Kaiser gesalbt worden. Aber bald darauf waren wieder Unruhen in Italien und den Niederlanden ausgebrochen; die protestantischen Fürsten schlossen sich zusammen, und Franz   I. stand insgeheim in Verbindung mit ihnen. Soliman der Prächtige bedrohte von neuem die Christenheit, und Karl, der die katholischen Fürsten um sich geschart hatte, traf alle Zurüstungen, um gegen ihn zu Felde zu ziehen.
    «Ich frage mich», sagte ich, «ob wir wirklich die Ketzerei überwinden, indem wir die Ketzer verbrennen.»
    «Auf unsere Prediger hören sie nicht», sagte Karl.
    «Ich wünschte», sagte ich, «ich könnte sie verstehen. Ich verstehe sie nicht.»
    Er runzelte die Brauen: «Der Teufel wohnt in ihren Herzen.»
    Er, der so großes Bedenken gehabt hatte, die Indianer mißhandeln zu lassen, hatte überall in den Niederlanden und in Spanien den Eifer der Inquisition geschürt: es war seine Christenpflicht, gegen die bösen Geister zu kämpfen.
    «Ich werde tun, was in meiner Macht steht, die Teufel zu verjagen», sagte ich.
    Ich verstand Karls Gereiztheit gut. Wenn wir uns auf die Lutheraner stützten, um den Papst zu bekriegen und mit Hilfe der Katholiken die protestantische Union bekämpften, so betrieben wir ein Schaukelspiel, das uns nicht weiterbrachte. Solange wir nicht die überall gärende Zwietracht der Geister besiegt hatten, war unser politischer Einheitstraum nicht zu verwirklichen. Ich war sicher, daß man dorthin gelangen könnte, nur mußte man die Methode finden. Durch die Verfolgungen steigerten wir

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