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Alle Orte, die man knicken kann

Alle Orte, die man knicken kann

Titel: Alle Orte, die man knicken kann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Bittrich
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her oder stoßen gerade mit einer Mopedrikscha plus einem Autowrack zusammen oder stolpern über Schlafende, Leichen und Kühe.
    Die meisten europäischen Besucher bemühen sich, das alles als absolut faszinierend zu empfinden. Lediglich zweiunddreißig Prozent der Besucher wollen die Stadt sofort wieder verlassen. Immerhin siebenundzwanzig Prozent halten es bis zum zweiten Tag aus und wollen erst dann abreisen. Einundvierzig Prozent möchten am dritten Tag weg, aber dann nur noch weg und nun nichts anderes mehr, gar nichts, höchstens sterben und nie mehr wiedergeboren werden. Mit diesem Gefühl sind sie ganz und gar authentisch in Indien angekommen und eigentlich bereits eingebürgert.
    Die aromatischsten Sehenswürdigkeiten
    Theoretisch liegt Mumbai auf einem Klumpen von Inseln namens Salsette. Praktisch merkt man das nicht, so eng klebt das Konglomerat am Festland. Nur dass es nach Süden in den Indischen Ozean ausfranst, in jenen Teil, den man irreführend «Arabisches Meer» nennt, und dass auf diesem Südzipfel der alte und zur Besichtigung vorgeschriebene Teil der Stadt liegt, das merkt man mit der Zeit. Sonderbarerweise ist der Wind vom Meer hier niemals frisch. Das mag daran liegen, dass dieser Teil des Indischen Ozeans dem Namen gerecht zu werden versucht, den ihm die Marine Conservation Society verliehen hat: größte Kloake der Weltmeere. Einheimische Fischer verstehen das als Auszeichnung. Denn viele Fische lieben Abfälle und Ausgeschiedenes. Vor allem jene, die in Mumbai auf den Teller kommen, selbstverständlich erst, nachdem sie auf dem Markt einige Tage lang Gelegenheit hatten, ihre Schadstoffe auszudünsten.
    Crawford Market.  Hier wird in schillernder Farbenpracht gezeigt, was nach Rat des Auswärtigen Amtes kein Europäer verzehren sollte, der sein Testament noch nicht gemacht hat. Arthur Crawford, zu dessen Gedenken die Markthallen benannt wurden, starb an dem schlichten Nationalgericht «Dal», einem Linseneintopf, in den außer Linsen alles eingerührt werden darf, was die Wand hochläuft oder sich zu weit aus dem Ausguss wagt. Crawford, einst Queen Victorias Statthalter in Bombay, ließ die erste funktionierende Kanalisation der Stadt anlegen. Seine Anlage ist bis heute die einzige ihrer Art geblieben, nur funktioniert sie nicht mehr. Crawford trug nebenbei den Ehrentitel «Guru Dooshan», den selten ein Europäer erhält. Er bedeutet so viel wie «Genie der Korruption». Mittlerweile sind die Markthallen aufmunterndumbenannt worden in Mahatma Jyotiba Phule Market. Jyotiba Phule setzte sich zu Crawfords Zeit dafür ein, dass das Analphabetentum von siebzig auf vierzig Prozent reduziert wurde. Da liegt es hundertfünfzig Jahre später immer noch. Die Markthallen stiften Reisende bisweilen zu Rufen des Entzückens an, was die Behörden auf die hochprozentigen Gärungsaromen zurückführen. Britische Reiseführer erklären es mit dem altenglischen Baustil der Hallen: normannisch-gotisch mit viktorianischen Reliefs. Der Anblick ließe Reisende «kurz vor der Ohnmacht noch einmal der Heimat gedenken».
    Chhatrapati Shivaji Terminus.  Ein paar hundert Meter südlich der Markthallen ist das Empire noch greifbarer: Der Bahnhof von Mumbai gleicht einem Schloss des englischen Landadels, nur dass seine Fassade von steinernen Affen erklettert wird und von gemeißelten Dschungelpflanzen umrankt ist. Bis zur Jahrtausendwende hieß der Prachtbau Victoria Terminus, und die meisten Einheimischen können diesen Namen bis heute leichter aussprechen. Für europäische Reisende ist der neugotische Prunk ein gesuchter Fluchtpunkt, besonders wenn sie vor Händlern aus dem Marktviertel Reißaus nehmen (besonders gefürchtet sind die Schmuck- und Flitterbanausen des Zaveri Bazaars), die ihre Überredungsversuche angesichts der bewaffneten Bahnhofswachen aufgeben. «Dieses Stück Alt-England bietet Trost und Zuversicht all jenen, die in Indien ihre Belastbarkeit überschätzt haben», vermerkte der Reisepoet Bruce Chatwin. Viele legen hier auch die Tücher ab, die sie sich am Mangaldas Market, dem nahen Kleiderbasar, haben aufschwatzen lassen und die bei einer Schnüffelprobe all die (anderswo längst verbotenen) Chemikalien ahnen lassen, mit denen sie gebleicht, gefärbt und imprägniert worden sind. Wer sich vor einer Extraportion Chemie nicht fürchtet, kann hier kostenlos Stoffe einsammeln, besonders wenner die Lebenserwartung indischer Baumwollfärber (35) bereits überschritten hat.
    Mumba Devi Temple. 

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