Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Orte, die man knicken kann

Alle Orte, die man knicken kann

Titel: Alle Orte, die man knicken kann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Bittrich
Vom Netzwerk:
den vielgepriesenen «Kulturschock». Sie wollen also einerseits in sauberen Hotels wohnen und vollklimatisiert zu Tempeln und Palästen rollen. Und möchten doch später glaubhaft von Dreck, Gestank, Elend, Lärm und Chaos erzählen können. Für die meisten geht dieser Traum in Erfüllung. Zwar rühmt sich das Land offiziell als Hightech-Labor und globaler Dienstleister. Es betreibt dreihundert Fernsehkanäle, sämtliche Warteschleifen deutscher Hotlines sowie den größten Leihmutterservice für westliche Länder. Obendrein ist es Weltmeister im Kopieren von Medikamenten, Viren und Textilien sowie größter Hersteller und Verbraucher hautbleichender Mittel. Dennoch hat es sich seine farbenprächtigen Traditionen bewahrt wie öffentliche Leichenverbrennung, das Vertreiben niederer Kasten aus Wohnbezirken und Restaurants, das Übereignen minderjähriger Mädchen an Tempelpriester zu heiligen Zwecken und natürlich die Witwenverbrennung, die nach neuen Gesetzen allerdings als Selbstmord deklariert werden muss.
    Das wichtigste Gepäckstück jedes europäischen Reisenden ist das Moskitonetz. Die einheimischen Mücken übertragen nicht nur Malaria, sondern mittlerweile auch Dengue- und Chikungunya-Fieber sowie die neu eingeführte japanische Enzephalitis. Hinzu kommen einige Borrelien-Arten, die in Deutschland schwer diagnostizierbar sind. Zum Glück gibt es vor Ort jede Menge passende Medikamente oder wenigstens ziemlich gut gemachte Nachahmungen. Außerdem wichtig: ein eigener Generator, weilder Strom regelmäßig ausfällt. Dann: Ohrenstöpsel. Nach einer Erhebung der Unicef gehört Indien neben Brasilien zu den lautesten Ländern der Welt. Motoren werden schallverstärkt, weil Lautstärke Wichtigkeit bedeutet und zuweilen das Überleben sichert. Alle Hupen sind auf maximalen Output getrimmt. Wer nicht hupt, wie Fahrradkulis aus niederen Schichten, betreibt wenigstens eine Glocke. Polizisten trillern auf schrillen Pfeifen. Finanztipp: Hörstürze auf oder nach einer Indien-Reise werden nach dem deutschen Beamtengesetz als sofortiger Grund für eine Frühpensionierung akzeptiert, und zwar ohne eingehende Untersuchung, als Beweis reicht das Flugticket.
    Zwingend zur Reiseapotheke gehören Klopapier, Immodium, ein Electrolyt-Glykose-Mittel, Tabletten gegen Migräne, Pillen gegen Durchfall, weitere gegen Juckreiz, für Gläubige Rescue-Tropfen, für Ungläubige Breitbandantibiotika, Wundsalben, Desinfektionsmittel, Schmerztabletten, Einwegspritzen (indische Ärzte benutzen Spritzen so lange, bis die Spitze stumpf wird), Betäubungsmittel sowie ein chirurgisches Basisbesteck zum Vernähen von Stichwunden, Entfernen von Steckgeschossen und zur Amputation schwärender Gliedmaßen. Und schon kann’s losgehen!
    Mumbai Wegen der vielen Bombenattentate ist Bombay vor fünfzehn Jahren in Mumbai umgetauft worden. Mittlerweile scheint den Einheimischen der frühere Name wieder aussagekräftiger. Unter beiden Namen ist die Stadt Startpunkt oder Abflugort der meisten Rundreisen und daneben wichtigster Produzent des steigenden indischen Smoganteils an der Erdatmosphäre (bislang 57   %). Auch an bombenfreien Tagen füllen Rauch und Abgase die Straßen. Ein Atemzug in Mumbai entspricht dem Äquivalent einer halben auf Lunge gerauchten Zigarette, teilt die Weltgesundheitsorganisation mit. Arme Inder ziehen aus diesem Grund hierher;die Stadtluft erspart den Tabakkauf. Die ausgedehnten Slums haben zwischen fünfzehn und zwanzig Millionen Bewohner, je nach Tageszeit und Niederschlag. Die meisten Bewohner befinden sich dort auf der Straße, wo der Bus sich ein paar Zentimeter vorwärtsrobben will. Oder sie scharen sich um den hellhäutigen Besucher und geben sich als dessen alte Facebook-Freunde zu erkennen, sobald er ein paar Rupien spendet, woraufhin noch viel mehr Freunde herbeigeeilt kommen. Einige davon wissen günstige Gelegenheiten zum Kauf echt seidener Saris, echt goldener Armbänder und echter Chinintabletten oder kennen Angebote zum Umnähen langer Ärmel, Abrasieren der Kopfhaare und Ziehen gesunder Zähne. Es gibt Läden. Doch Händler und Handwerker sitzen bevorzugt auf der Straße, auf einem aufgetrennten Sack oder einer Plastikplane, schärfen Messer oder hämmern auf Leder und Metall herum. Frauen zeigen ein geliehenes Kleinkind (für Kinderausleihe zum Betteln fallen je nach Alter und Aussehen des Kindes unterschiedliche Gebühren an). Andere ziehen einen mit Lumpen hochbepackten Handkarren oder drei Bretter hinter sich

Weitere Kostenlose Bücher